Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Wenn ihr die Stelle findet, wo er getötet wurde, werdet ihr dort Blutspuren finden.
Sie sah auf ihre Armbanduhr, eine hübsche und teure Cartieruhr, deren Eleganz von dem Kleidungsstil, für den sie bekannt oder eher berüchtigt war, abstach. Im Augenblick trug sie ein kurzärmeliges lila Crimplenekleid mit einer gelben Strickjacke darüber. Über dem Stuhl hing ein türkiser Steppmantel.
– Ich muß jetzt aufbrechen, sagte sie, ich soll morgen auf einer Konferenz in London sprechen. Schade, daß man nicht den Zug unter dem Ärmelkanal nehmen kann, ich hatte darauf gehofft, aber es dauert offenbar noch ein paar Monate, bis die damit zu Potte kommen. Wenn ihr noch etwas fragen wollt, ich habe dem Bericht Kontaktadressen beigelegt. Aber das meiste steht ja drin.
Sie legte Geld auf den Tisch, winkte Tony Deblauwe hinter der Theke zu, stand auf und ging.
– Wollt ihr etwas bestellen? fragte Tony und kam zu ihnen. Julie bestellte Muschelsuppe, Martine begnügte sich mit einer Tasse Kaffee.
– Kein Appetit, sagte Tony. Vermißt du vielleicht deinen Mann? Ich habe von Sophie gehört, daß er in Schweden ist. Sie wollte heute auch hinfahren.
Im Juni hatten Tony und Martines Schwägerin Sophie zu Martines großer Verblüffung ein Verhältnis angefangen. Sophie, international bekannte Regisseurin und Schauspielerin, und Tony, Kneipenbesitzer und bekehrter Geldschrankknacker, sahen nach einem ungewöhnlich ungleichen Paar aus. Aber inzwischen ging es schon fast drei Monate gut. Sie sahen sich natürlich nicht sehr oft, weil Sophie in Paris wohnte und nicht die leiseste Absicht hatte, nach Villette zu ziehen.
Wenn Martine ehrlich sein sollte, war sie nicht uneingeschränkt begeistert über Tonys und Sophies Liebesaffäre. Sie mochte ihre Schwägerin, jedenfalls war es das, was sie sich einredete, aber Sophie beanspruchte in gewisser Weise viel Platz. Wenn sie einen Raum betrat, war es, als würde alles Licht auf sie gerichtet und als würde sie den ganzen Sauerstoff beanspruchen. Thomas wurde wie ein Schuljunge, mit dem seine große Schwester Schlitten fahren konnte. Und jetzt hatte sie auch Tony, Martines Jugendfreund, mit Beschlag belegt.
– Ach was, sagte sie, ich habe nie Appetit, wenn ich an einem Mordfall arbeite. Ich komme heute abend zum Essen.
– Mach das, sagte Tony, ich lade dich ein, dann können wir die Geschwister Héger gemeinsam vermissen.Thomas arbeitete an seiner Korrektur weiter, während Sophie die Provinzialregierung in Falun anrief, um mit ihrem Sohn Daniel zu sprechen. Es stellte sich heraus, daß er in Hammarås auf einer Sitzung mit dem Umwelt- und Gesundheitsschutzausschuß war, und Sophie entschloß sich sofort, dort hinzufahren. Da das Personal von der ambulanten Altenbetreuung soeben wieder aufgetaucht war, um den Lunch für die Bischöfin zuzubereiten, erbot sich Thomas, Sophie in seinem Mietwagen zu fahren.
– Warum findest du es so komisch, daß Birgitta Kommunalrat in Hammarås geworden ist? fragte er, als sie auf die Straße nach Hanaberget gekommen waren. Während seines Jahres in Schweden war Thomas diese Straße jeden Morgen mit dem Schulbus gefahren. Er erinnerte sich an das Gefühl im Magen, wenn der Bus sich durch die steilen Steigungen und scharfen Kurven der schmalen Straße schlängelte, und wie die dichten Tannenstämme sogar an schönen Sommertagen das Sonnenlicht aussperrten. Er erinnerte sich an das Wasserschimmern von stillen Waldseen und die Dunstschleier über dem Bredemossen auf halbem Wege nach Hanaberget. Und alles war sich gleich, es war, als hätte die Zeit seit den sechziger Jahren stillgestanden.
– Aber mein Lieber, sagte Sophie, als ich mich Anfang der siebziger Jahre in Hammarås aufhielt, war Birgitta praktisch der Gesellschaftsfeind Nummer eins! Sie war Kranführerin in Hamra und war mit einem Justitiar von Beklädnads, Christer Matsson, der jetzt offenbar aufgehört hat zu saufen, verheiratet gewesen und hing trotzdem mit Mädels von der Linken und Sozialbetreuerinnen und Schauspielerinnen und anderen verdächtigen Personen herum, die die Frauengruppe in Hammarås gegründet hatten. Die Gewerkschaftsbonzen und die Kommunalheinishaßten sie! Aber allmählich wurde sie doch Teil der sozialdemokratischen Ortsgruppe, und das war gut so. Birgitta ist die geborene Führerin, das fand ich schon damals, es ist gut, daß sie etwas Größeres führen kann als einen gewerkschaftlichen Studienkreis.
Sie fuhren an Sutarhyttan vorbei, dem alten Werk aus dem 19.
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