Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Einfachheit halber komme ich am besten zu Ihnen nach Hause. Geht es jetzt sofort?
– Es hat wohl keinen Sinn, daß ich frage, wie Sie meine Mobiltelefonnummer bekommen haben, sagte er, und wenn Sie mich absolut treffen müssen, können Sie ebensogut sofort kommen. Finden Sie zu meiner Villa?
Er beschrieb den Weg, und Martine sagte, sie werde in einer Stunde da sein. Sie vermerkte, daß er nicht gefragt hatte, warum sie ihn treffen wollte.
Sie überquerten den Fluß und fuhren in nördlicher Richtung am linken Flußufer, wo die Straße nahe am Wasser verlief und die Industriekais und die Stadtbebauung von Villette nach und nach von Uferpromenaden, großen Villen und Bäumen in leuchtenden Herbstfarben ersetzt wurden.
– Du bist so fein, sagte Julie und betrachtete Martines schwarzes Armanikostüm und die dunkelgrüne Seidenbluse, sag nicht, daß du dich für Inspektor Bruno feingemacht hast?
Martine schnitt eine Grimasse.
– Nein, aber ich muß ja heute nachmittag nach Brüssel. Weißt du es nicht mehr? Die parlamentarische Untersuchungskommission ruft.
Im April hatte Martine die Untersuchung des Todes einer pensionierten Lehrerin geleitet. Was zunächst wie ein banaler Fahrerfluchtunfall ausgesehen hatte, hatte mit einem politischen Prachtskandal geendet, der sich verschärfte, als die Journalistin Valerie Delacroix, eine enge Freundin von Martine, in einer Reihe von Artikeln enthüllte, wie Jahre systematischer politischer Verdunklung zu Morden und Mordversuchen geführt hatten. Im Juli, direktvor der Sommerpause, hatte das Parlament beschlossen, eine eigene Untersuchungskommission einzusetzen, um die ganze Wahrheit über den Skandal ans Licht zu bringen. Die Kommission hatte ihre Arbeit gerade aufgenommen.
– Ja, sicher, sagte Julie, aber kannst du nicht drum herumkommen? Jetzt, wo du mitten in einem Mordfall bist?
Martine zuckte die Achseln.
– Wann bin ich nicht mitten in einem Mordfall? Ich kann es ebensogut hinter mich bringen.
Sie fuhr jetzt langsam. Berger hatte gesagt, es sei leicht, die Einfahrt zu verpassen. Aber hier war sie, eine Öffnung in einer unbeschnittenen Hecke und zwei Radspuren, die hinunter zum Fluß führten, genau wie Stéphane Berger es gesagt hatte. Julie sah enttäuscht aus.
– Ich dachte, es wäre hier ein bißchen standesgemäß, sagte sie, eine hübsche Allee oder so, aber das hier sieht eher aus wie der Weg zu meinem Großvater.
In diesem Moment teilte sich der Weg. Martine bog nach rechts ab. Nach hundert Metern endete der Weg an einer niedrigen Mauer. Sie fuhren durch das offene Tor hinein auf eine gepflasterte Auffahrt, gesäumt von Pappeln, die in Herbstfarben vor dem blauen Himmel leuchteten. Aus einem kleinen Gehölz rechts auf dem großen Grundstück floß ein Bach, der sich zu einem säuberlich umpflasterten Teich erweiterte, an dem zwei grazile Wassernymphen aus Bronze ruhig auf den Wasserspiegel hinabblickten. Links war ein französischer Garten zu sehen, in dem Rosen in Rot und Gelb glühten.
– Aha, sagte Julie, schon besser!
Martine hielt vor dem Haus an, und sie stiegen aus dem Auto. Das gelbe Laub der Bäume bewegte sich sachte in einem leichten Wind, und hinter dem Haus war das endlosePlätschern und Gluckern des Flusses zu hören. Es mußte hier Personal geben – der gepflasterte Platz vor dem Haus war sauber und frei von Herbstlaub, als sei er vor fünf Minuten gefegt worden. Aber nicht ein Mensch war zu sehen.
Das Haus war weiß mit Mansardendach aus Kupfer über zwei Stockwerken mit hohen Sprossenfenstern und einer dritten Reihe Fenster im Dach selbst. Berger hatte viele Wohnungen, unter ihnen ein Schloß in der Dordogne und einen Palast aus dem 17. Jahrhundert in Paris. Das hier war kein Schloß, nicht einmal ein Herrenhof, aber als kleines belgisches Landhaus eines reichen Mannes war es bezaubernd.
Sie stiegen die breite Treppe hinauf. Gerade als Julie den Türklopfer heben wollte, ging die Tür auf, und Stéphane Berger selbst stand da, in Jeans und einem nougatfarbenen Polopullover, der teuer aussah.
– Madame Poirot? sagte er und streckte die Hand aus. Die Hand war groß und warm, der Griff fest, aber nicht zu hart.
– Ja, sagte Martine, guten Tag, Monsieur Berger. Und das hier ist meine Rechtspflegerin, Mademoiselle Wastia.
Er schüttelte auch Julie die Hand und betrachtete beide eine Weile, ohne etwas zu sagen, aber mit einer Intensität, die es in Martines Nacken kribbeln ließ. Sie erkannte die grünbraunen Augen und
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