Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Nachrichtenmagazinen komplettiert.
Martine blätterte rasch die ersten Seiten mit den Bildern des jungen Berger im Gewimmel des Nachtlebens an der Riviera durch, fotografiert zusammen mit mehr oder weniger klar leuchtenden Stars und Sternchen aus der Film- und der Musikbranche, mehr oder weniger einflußreichen Politikern sowie zumindest einer Person, die, wie sich Martineerinnerte, als eine wichtige Figur in der Unterwelt von Marseille bezeichnet worden war.
– Und sieh mal hier, sagte Julie, hier haben wir unseren anderen Freund, Monsieur Victor.
Das Bild, auf das sie zeigte, war ein ziemlich unscharfes Nachtklubbild, auf dem Berger und der jetzige Betriebsleiter von Berger Rebar nebeneinanderstanden, beide mit Champagnergläsern in den Händen. Louis Victor trug einen weißen Anzug, und seine dunklen Haare lockten sich noch dick und üppig auf seinem Kopf. Neben ihm stand eine schlanke Frau mit asiatischem Aussehen, gekleidet in ein ärmelloses weißes Kleid und weiße Courrègestiefel. Martine las die Bildunterschrift: »Unser aller Inspektor Bruno ist bekanntlich auch Geschäftsmann. Seine rechte Hand Lou Victor, hier mit seiner exotisch schönen Frau Li, kümmert sich um Bergers Immobilien, während der Eigentümer unter den Schurken der Riviera aufräumt, zumindest auf dem Fernsehschirm.«
– Aber er ist mit der exotisch schönen Li nicht mehr verheiratet? fragte Martine neugierig.
– Nein, sie scheint von der Bildfläche verschwunden zu sein, ich habe etwas herumgefragt, sagte Julie.
Und trotzdem hat er immer noch ihr Porträt auf dem Schreibtisch, dachte Martine.
Am nützlichsten im ersten Teil der ersten Mappe war ein Interview in einer inzwischen eingestellten Fernsehzeitschrift, vor allem, weil es ein Bild von Bergers offziellem Personalausweis enthielt. Das schien ein ständiger Beitrag in der Zeitschrift gewesen zu sein, Promiinterviews mit einem Bild des Personalausweises, kombiniert mit kurzen Fragen und kurzen Antworten.
– Sieh mal, er ist in Paris geboren, sagte Martine undstudierte den Ausweis, ich dachte, er kommt aus Marseille?
– Das denken alle, sagte Julie, aber es stimmt anscheinend nicht. Und siehst du, er ist im sechzehnten Arrondissement geboren, das hat mich etwas gewundert, das sechzehnte gehört doch zu den feinen Teilen von Paris? Jetzt guck dir aber an, was er über seine Eltern sagt:
Sie zeigte auf einen Abschnitt des Interviews, und Martine überflog ihn rasch.
»Was haben Ihre Eltern gemacht?
SB: Mein Vater war Chauffeur, meine Mutter arbeitete als Köchin.
Was ist das Wichtigste, was Sie von ihnen gelernt haben?
SB: Mein Vater brachte mir bei, Träume zu haben, meine Mutter brachte mir bei, hart zu arbeiten.«
– Die Eltern gehörten vermutlich zu den Bediensteten einer Oberklassenfamilie, sagte Julie, ich nehme an, daß sie im Krieg nach Südfrankreich gezogen sind, um aus den deutsch okkupierten Gebieten rauszukommen.
Im Interview erzählte Berger, daß er früh seine Eltern verloren habe und gezwungen gewesen sei zu arbeiten, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, aber wie er das getan hatte, das zu erwähnen vermied er sorgfältig.
– Es wird spekuliert, sagte Julie, es gibt alle möglichen Geschichten in den Ausschnitten. Er hat auf einem Fischerboot gearbeitet, er war Page in einem Luxushotel, er war Geldeintreiber für einen Vermieter, er war Gigolo, er war Marktverkäufer. Keiner weiß, was wahr ist. Aber er spielt gern seinen einfachen Hintergrund aus, wenn es ihm paßt. Wie zum Beispiel, als er diese Schuhfabrik bei Paris gekauft hat, da hat er lang und breit davon geredet, daß sein Großvater in den dreißiger Jahren Schuhmacher in einem Dorf in Seine Saint-Denis war, warte, ich zeig’s dir.
Sie zog die zweite Mappe zu sich heran und schlug eine Seite ziemlich weit hinten auf, wo Monique einen Artikel aus der Tageszeitung Le Parisien, illustriert mit zwei Bildern, eingeklebt hatte. Das eine zeigte Berger vor der Schuhfabrik, umgeben von lächelnden Angestellten. Das andere zeigte einen weißhaarigen Mann in Lederschürze mit einem großäugigen, etwa achtjährigen Jungen, der auf seinen Schultern saß. Über dem Kopf des kleinen Jungen sah man ein Schild.
– »Kleins Schuhmacherei«, konstatierte Julie.
Im übrigen war über Bergers Leben fast nichts bekannt, bis er 1961, erst zweiundzwanzig Jahre alt, begann, gebrauchte Autos in einer neugegründeten Firma zu verkaufen, die dank erfindungsreicher Werbung und kreativer Verkaufsmethoden
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