Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
einem schwarzen Yves-Saint-Laurent-Smoking ohne etwas darunter. Unter der offenen Smokingjacke sah man ihre sechzehnjährigen Brüste, und die hohen Stilettoabsätze ließen ihre kälbchenhaften Teenagerbeine in den Satinbiesen der Smokinghose endlos lang aussehen. Ihre Haare waren naß zurückgekämmt, der Mund war ein glänzender Schmollmund. In der Hand hielt sie eine Pistole. Vor ihr fielen zwei dunkle Schatten auf die Gasse. Ganz oben auf dem Bild hatte jemand mit Filzstift geschrieben »Agent 007 Dardenne«.
Sollte sie es herunterreißen und mit einer erbosten Geste in den Papierkorb werfen? Ach was, das war ziemlich harmlos, entschied sie. Sie drehte sich um, sah, daß alle sie neugierig anstarrten, und formte die rechte Hand zu einer Pistole.
– Wer war das? sagte sie drohend und sah über die Versammlung. Alle sahen gleich unschuldig aus.
– Okay, Jungens, sagte sie, ich wußte nicht, daß ihr in der Freizeit alte Modezeitschriften durchblättert. Aber es ist schön, daß ihr eure weiblichen Seiten bejaht, dessen müßt ihr euch nicht schämen.
Sie entschloß sich, zu Julie Wastia im dritten Stock hinaufzugehen, und lächelte über ihre geglückte Replik. Aber das Lächeln erlosch, als sie an das Bild dachte, das auf der anderen Doppelseite gewesen war – Marie, ihre beste Freundin, in einem Satinoverall mit Taschen und mit einem Schutzhelm auf dem Kopf, umgeben von Bauarbeitern in Arbeitskleidung. Aufgrund des unaufgeklärten Mordes an Marie hatte sich Annick dazu entschlossen, Kriminalpolizistin zu werden.
– Ich habe einen anderen Auftrag für dich, sagte Julie, als Annick sich beklagte. Eigentlich müßtest du ihn wohl von einem Chef bekommen, aber was soll’s, es ist ein Job, und jemand muß ihn machen, und je eher, desto besser. Martine hat angerufen und gesagt, daß Nathalie Bonnaire Fabien Lenormands verschwundenes Notizbuch gefunden hat und will, daß jemand kommt und es mit ihr durchgeht. Du kriegst sicher mehr aus Bonnaire heraus, als Serge es gekonnt hätte. Ich rufe sie an und benachrichtige sie, daß du unterwegs bist.
Also fuhr Annick zu dem alten Industriegebiet hinaus, wo Nathalie Bonnaire wohnte. Auch bei Tageslicht sah es mit seinen Baugerüsten, flatternden Planen und Pfützen, die noch nicht getrocknet waren, düster aus. Annick drückte auf die Sprechanlage, bekam aber keine Antwort. Julie hatte ihr den Türcode gegeben, und sie tippte ihn ein. Es war dunkel im Eingang, und kein Licht ging an, als sie auf den Schalter drückte.
Es war merkwürdig, daß Nathalie nicht zu Hause war, nachdem sie selbst die Polizei gebeten hatte zu kommen. Annick spürte, wie ihre Nackenhaare sich aufrichteten, als das Adrenalin in den Körper zu strömen begann. Etwas ging hier nicht mit rechten Dingen zu. Sie machte einen Schritt in die Eingangshalle und hörte das Splittern von Glas unter ihren Füßen. Mit dem Rücken zur Wand tastete sie sich zum Fahrstuhl und drückte auf den Knopf. Die Tür öffnete sich sofort. Also war es kein Stromausfall, der die Eingangshalle verdunkelt hatte. Im Licht der offenen Fahrstuhltür sah sie auf dem Boden im Eingang Scherben eines zerbrochenen Lampenschirms.
In einer Ecke der Halle sah sie eine Stehleiter und ein paar Malereimer. Sie nahm einen der Eimer und stellte ihn so hin, daß die Fahrstuhltür blockiert und der Fahrstuhl unbenutzbar wurde. Dann zog sie ihre selten benutzte Dienstwaffe und schlich so lautlos, wie sie konnte, im Dunkeln die Treppe hinauf.
Die Tür zu Nathalie Bonnaires Wohnung stand offen. Nathalie selbst lag davor auf dem Rücken. Sie sah aus wie eine Stoffpuppe, wie sie da lag, die Gliedmaßen in unnatürlich verzerrten Winkeln. Ihr weißes T-Shirt war blutbefleckt, ebenso wie ihr blasses Gesicht, und das Blut schien aus ihrer zerschlagenen Nase zu kommen. Sie mußte mit dem Kopf auf den Steinboden geschlagen sein und war entweder tot oder tief bewußtlos.
Annick beugte sich über sie und sah, daß ein kleines Rinnsal aus Blut immer noch aus der Nase der jungen Frau sickerte. Sie lebte also. Annick drehte sie vorsichtig in die stabile Seitenlage und ging dann mit immer noch gezogener Waffe in die Wohnung, um einen Krankenwagen zu rufen.Martine war so müde, daß ihr alle Muskeln weh taten, als sie schließlich am Abend nach Abbaye-Village heimfuhr. Sie fühlte sich, als wäre sie einen Marathon gelaufen. Aber es war psychische Erschöpfung, keine physische, die die Schultern schmerzen und die Beine zittern ließ. Sie durchdachte
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