Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
ihre letzten vierundzwanzig Stunden. Zuerst der Katzenkopf auf der Treppe, dann die Begegnung mit Berger und das Gefühl von Bedrohung, das er allein dadurch vermittelte, daß er zwei Schritte vortrat, dann die Begegnung mit Jean-Louis und die Anstrengung, das kluge und kalte Gehirn dazu zu bringen, die Reaktionen des Körpers zu steuern, und danach die unerträgliche halbe Stunde im Warteraum mit Guy Dolhets Augen, die sich wie glühende schwarze Kohlestücke in sie bohrten.
Die Befragung im Ausschuß war gutgegangen, aber es hatte Kräfte gekostet, dort in der Kammer zu stehen und auf alle Fragen gut formulierte, durchdachte Antworten zu geben. Die Atmosphäre war formell und feierlich, und Jean-Louis war ihr wie ein Fremder vorgekommen, als sie ihn jetzt zum ersten Mal in seiner offiziellen Rolle sah, was an und für sich nur gut war.
Die Zuschauertribüne war voll besetzt gewesen. Sogar Philippe war dagewesen, und als sie nach der Befragung ins Foyer kam, war er zusammen mit einem eleganten französischen Offizier um die fünfzig heruntergekommen, den er mit für Philippe ungewöhnlichem Enthusiasmus als Oberstleutnant Henri Gaumont, militärischer Berater bei der französischen Natodelegation, vorstellte. Dabei hatte sie immer geglaubt, daß ihr Bruder Militär nicht mochte. Aber jetzt stand er da und sah fast hingerissen aus, als sich Oberst Gaumont über ihre Hand beugte und erklärte, er sei überglücklich, die ebenso herausragende wie entzückendeSchwester seines Freundes Philippe kennenlernen zu dürfen.
– Und wie Sie verstehen, Madame, sind wir viele in der Nato, die sich für diese Affäre interessieren, hatte er gesagt.
Dann kamen ihre Freundinnen Valerie Delacroix und Denise van Espen und nahmen sie in den Arm. Sie war nahe daran gewesen, der Versuchung, mit ihnen zu Abend essen zu gehen, nachzugeben, anstatt nach Villette und zur Morduntersuchung zurückzukehren. Aber da hatte es wieder in ihrer Handtasche geklingelt. Es war Julie, die erzählte, daß Nathalie Bonnaire in ihrer Wohnung attackiert worden war und daß das schwarze Notizbuch weg war.
– O nein, sag nicht, daß sie tot ist, sagte Martine entsetzt und sah, wie sich alle Köpfe im Foyer zu ihr wandten, während sie Julies beruhigender Antwort zuhörte.
– Sei vorsichtig mit dem Mobiltelefon, Martine, sagte Valerie warnend, man redet viel lauter, als man glaubt.
Nach dem Telefongespräch dachte sie nicht mehr im geringsten daran, in Brüssel zu bleiben und essen zu gehen. Sie fuhr nach Villette zurück, direkt zum Saint-Sauveur-Krankenhaus, wo Nathalie auf der Intensivstation lag, immer noch bewußtlos, das Gesicht unter den kurzen Haaren fast ebenso weiß wie das Kissen, auf dem der Kopf ruhte. Sie vergewisserte sich, daß Nathalie rund um die Uhr unter polizeilicher Aufsicht stand, und fuhr für eine kurze Konferenz mit Julie, Annick und Christian, der aus Brüssel zurückgekehrt war, zum Justizpalast zurück. Serge dagegen war von seinem Ausflug zu den Schleusen am Albertkanal und an der Meuse noch nicht zurückgekommen.
Als die Sitzung vorbei war, wurde ihr plötzlich klar, daß sie seit dem Frühstück nichts gegessen hatte, weder Lunch noch Abendessen, und sie schaute in die Blinde Gerechtigkeithinein, um sich ein Sandwich zu besorgen, das sie mit nach Hause nehmen konnte. Vielleicht würde sie es mit einer Tasse Tee im Bett essen.
Das schlimmste war, daß sie dieses Wochenende diensthabende Untersuchungsrichterin war. Sie konnte nur hoffen, daß nicht noch mehr schwierige Untersuchungen auf ihrem Schreibtisch landeten.
Die Straßenlaterne war immer noch kaputt, aber sie hatte zumindest daran gedacht, diesmal die Außenbeleuchtung anzumachen. Sie leuchtete mild auf eine beglückend leere Außentreppe. Martine atmete auf und fühlte, wie ihre Schultern sich entspannten. Sie war angespannter gewesen, als sie sich selbst gegenüber zuzugeben bereit war, und es war eine Erleichterung, keine weiteren unangenehmen Überraschungen vor der Haustür zu finden.
Mit dem Sandwichpaket in der Hand ging sie zum Briefkasten, um die Post hereinzuholen. Es war eine Handvoll Sendungen – eine Elektrorechnung, ein paar Briefe an Thomas, eine Ansichtskarte an sie beide und ein Brief an Martine. Sie legte sie auf den Küchentisch, nachdem sie die Tür abgeschlossen und verriegelt hatte.
Eine Warnglocke begann in ihrem Hinterkopf zu läuten, als sie den Brief betrachtete, der an sie adressiert war. Auf dem braunen Umschlag stand in
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