Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
bestimmten schwarzen Druckbuchstaben »Madame Poirot«, aber es fehlten Briefmarke, Poststempel und Adresse.
Er war vielleicht von einem Nachbarn, dachte Martine und versuchte, tief und ruhig zu atmen. Aber sie spürte, wie sich ihre Schultern erneut spannten und die Atemzüge kürzer wurden.
Der Umschlag war nicht zugeklebt. Sie schob mit einemKugelschreiber die Lasche auf und drehte den Umschlag um. Ein zusammengefaltetes Stück Papier fiel auf den Tisch. Sie glättete es und sah vier unscharfe Fotos. Sie sahen aus wie fotokopierte Zeitungsbilder.
Drei der Bilder stellten Männer dar, jedes von ihnen mit einer Jahreszahl an der Seite: 1975, 1981 und 1992.
Das unterste Bild stellte sie selbst dar, und daneben befand sich statt der Jahreszahl ein Fragezeichen.
Martine sank auf den Küchenstuhl. Sie erkannte die drei Männer – François Renaud, Pierre Michel und Giovanni Falcone.
Drei Untersuchungsrichter, die im Dienst ermordet worden waren.
KAPITEL 7
Samstag, 24. September 1994
Villette / Granåker
Claudine de Jonge öffnete ihr Blumengeschäft am Bahnhof am Samstag morgen um zehn, aber sie war zwei Stunden früher gekommen, um einen Brautstrauß und einen Sargschmuck für eine Beerdigung zu binden. Sie war mit beiden sehr zufrieden. Die Braut war eine sechsunddreißigjährige Wirtschaftsprüferin, die sich nach langem Zögern entschlossen hatte, der Ehe eine zweite Chance zu geben, und sie wollte einen Strauß, der stilvoll und nicht aufwendig war, aber dennoch Glück und bebende Hoffnung ausdrückte. Genau das hatte sie gesagt, und Claudine fand, daß sie den Auftrag perfekt ausgeführt hatte. Aus den Resten band sie zwei niedliche Sträuße, die sie für die fünfjährigen Brautmädchen, Nichten des Bräutigams, gratis mitschicken wollte.
Hochzeit und Beerdigung, dachte sie, Leben und Tod – bei allen großen Übergängen des Lebens brauchte man Blumen. Sie hatte sich zur Floristin ausbilden lassen und ihr Unternehmen gestartet, weil sie gern Blumen arrangierte und weil sie begriffen hatte, daß ihre und Christians Ehe früher oder später scheitern würde, wenn sie weiter Hausfrau blieb. Aber sie hatte nie damit gerechnet, wie viel an menschlichem Austausch es mit sich brachte, Blumen für die großen Feierlichkeiten des Lebens zu arrangieren. Manchmal fühlte sie sich fast wie eine Fürsorgerin, wenn sie trauernden Angehörigen half, Blumen für eine Beerdigung zu wählen. Sie erzählten dann, wie die Toten gewesenwaren, welche Blumen und Farben ihnen gefallen hatten. Es war, als helfe ihnen das in ihrer Trauer.
Sie schloß die Glastüren zum Laden auf und trat auf die Place de la Gare, um von außen einen kritischen Blick auf die Auslagen zu werfen. Doch, es sah gut aus. Kalte Farben in einem Schaufenster, warme Farben im anderen. Keine Eimer mit billigen Sträußen vor dem Laden, das verabscheute sie, es war so häßlich. Sie vermutete, daß das einer der Gründe dafür war, daß ausgerechnet sie die erstrebenswerte Möglichkeit bekommen hatte, am Bahnhof Blumen zu verkaufen.
Der kürzlich renovierte Bahnhof von Villette war eine der Sehenswürdigkeiten der Stadt, entworfen in wogenden organischen Formen von einem Schüler des berühmten katalanischen Architekten Antonio Gaudí. Um Claudines Schaufenster wanden sich Pflanzen und Tiere aus Kupfer, das Grünspan angesetzt hatte, und es gehörte zu ihrem Vertrag, die Auslagen auf einem Niveau zu halten, das des Gebäudes würdig war.
Eine Frau kam in den Laden, eine rothaarige Frau in Claudines Alter, gekleidet in eine schwarze lange Hose und eine lila Wildlederjacke mit Applikationen. Sie schlenderte eine Weile im Laden herum und schaute die Blumen an, planlos und auf gut Glück, obwohl sie aussah, als wüßte sie, was sie wollte.
– Brauchen Sie Hilfe bei der Auswahl? fragte Claudine.
Die Frau lächelte und hielt die Hände hoch.
– I’m sorry, I don’t speak French, I just came in to look at your beautiful flowers, sagte sie mit einem Akzent, den Claudine nicht lokalisieren konnte. Etwas Nordeuropäisches, vermutete sie.
– It’s a lovely jacket you’re wearing, sagte Claudine, where is it from?
Die andere Frau lächelte wieder.
– It’s from Sweden, just like me. My husband made it, he is, what do you say, he is a taylor, in leather.
Claudine hörte, daß die Frau den Bruchteil einer Sekunde zögerte, bevor sie »husband« sagte, und wurde sofort neugierig. Vielleicht waren der Lederschneider und die Frau in der lila Jacke
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