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Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Hedström
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ist. Es würde mich nicht wundern, wenn er jetzt, nachdem die Mauer gefallen ist, nach Ungarn zurückgekehrt ist und dort als neokapitalistischer Räuberbaron weiterlebt.Annick kehrte verwirrt und unsicher, ob sie tatsächlich etwas von Wert herausbekommen hatte, zum Justizpalast zurück. Sie sah jetzt vieles, das dafür sprach, daß der siebzehnjährige Istvan alias Pisti Juhász beim Grubenunglück 1956 nicht gestorben, sondern durch eine unergründliche Laune des Schicksals der Katastrophe entkommen war und das als seine Chance gesehen hatte, sich von Gläubigern und schwangerer Freundin abzusetzen. Es gab auch Gründe zu vermuten, daß der junge Istvan sich dann nach Schweden abgesetzt und einen Job in der Grube in Hanaberget bekommen hatte, wo er 1959 fotografiert worden war.
    Aber was hatte das mit dem Mord an Fabien Lenormand zu tun? Fabien hatte sich für das Schicksal des jungen Grubenarbeiters interessiert. Am Abend, bevor er ermordet wurde, hatte er von Brüssel aus angerufen, um die Schreibweise von dessen Namen zu kontrollieren, und an seinem toten Körper hatte man ein Fragment eines Zeitungsartikels gefunden, mit einem Bild, auf dem auch Istvan Juhász zu sehen war. Da gab es einen klaren Zusammenhang, aber sie konnte sich ums Verrecken nicht ausrechnen, was das mit dem Mord zu tun hatte. Im Augenblick hatte sie das Gefühl, daß sie durch ihre handfeste Kontrolle von Fabien Lenormands Kreditkartenrechnungen mehr getan hatte, um die Untersuchung voranzubringen, als durch ihre langen Gespräche draußen in der alten Grubenortschaft.
    Ihre Laune wurde noch schlechter, als sie ins Stockwerk der Polizei im Annex des Justizpalastes hinaufkam und Serge Boissard begegnete, der auf dem Weg hinaus war. Er erzählte, daß Christian de Jonge aus Brüssel angerufen und ihn gebeten hatte, zu den Schleusen in Hasselt, Genk und Liège zu fahren, um zu sehen, wo es am leichtesten wäre, im Schutz der Dunkelheit eine Leiche in einen Prahm zu kippen.
    – Der Kommissar nimmt an, daß der Mord irgendwo in der Nähe des Kanals ungefähr hundert Kilometer von Brüssel in Lenormands Auto verübt wurde, erzählte Serge, und ich soll auch ein bißchen am Kanal herumschnüffeln, mit Leuten reden und hören, ob jemand am Dienstag abend etwas gesehen hat.
    – Wenn er in Hasselt oder Genk ermordet wurde, ist es wohl eigentlich ihr Fall und nicht unserer, sagte Annick, vor allem, weil sie sauer war, daß Serge den Auftrag bekommen hatte und nicht sie.
    Serge grinste.
    – Sicher, aber wo der Tatort war, wissen wir ja erst, wenn wir den Fall gelöst haben. Wir haben die Leiche gefunden, wir kümmern uns um die Untersuchung.
    – Aber du informierst natürlich die Kollegen in Hasselt und Genk, bevor du anfängst, an den Schleusen herumzuschnüffeln, sagte Annick, die sehr wohl wußte, daß Serge nicht die Absicht hatte, Zeit für solche Formalitäten zu verschwenden.
    Er zuckte die Achseln.
    – Wenn ich diskret bin, müssen sie nie etwas erfahren. Aber wenn ich etwas entdecke, ist das natürlich etwas anderes, dann muß ich in den lokalen Bullenstall latschen und etwas kooperieren.
    »Diskret«, dachte Annick und betrachtete Serges breite Schultern unter der Lederjacke. Sein ganzes Äußeres schrie so nachdrücklich »Polizist«, daß, wo immer er sich zeigte, jede verbrecherische Tätigkeit innerhalb eines Radius von einem Kilometer aufhörte. Sie selbst dagegen, mit ihrem raffiniert anonymen Aussehen und ihren raffiniert alltäglichen Kleidern, hätte auf den Kais umhergehen und Fragen stellen können, ohne daß jemand geahnt hätte, daß sie mehr war als eine neugierige Touristin.
    Sie trampelte wütend los zu ihrem Schreibtisch. Serge begann, auf den Ausgang zuzugehen, hielt aber inne und drehte sich um.
    – Dardenne, sagte er, hast du das neue Bild am Schwarzen Brett gesehen? Warum siehst du nicht immer so aus, das würde die Atmosphäre hier beleben!
    Sie änderte den Kurs und trampelte statt dessen wütend los zum Schwarzen Brett, aber nicht allzu beunruhigt. Nacktbilder hatte sie nie machen lassen, und Modell für Unterwäsche hatte sie nicht werden können aufgrund der häßlichen Narbe von ihrer Blinddarmoperation mit sechs Jahren.
    Das Foto, das ans Schwarze Brett gepinnt worden war, stammte aus einer französischen Modezeitschrift. Wann war es aufgenommen worden, irgendwann Ende der siebziger Jahre? Sie bildete sich ein, daß sie sechzehn gewesen war. Das schwarzweiße Bild zeigte Annick in einer dunklen Gasse, in

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