Die Günstlinge der Unterwelt - 5
Streitaxt an seinem Gürtel und blickte kurz auf den Stuhl. »Mir geht es gut, Lord Rahl, aber ich fürchte, ich habe nichts zu berichten.«
Richard sank in seinen Sessel zurück. »Verstehe. Keine Spur? Nichts?«
»Nein, Lord Rahl. General Reibisch trug mir auf, Euch mitzuteilen, daß sie gut vorankommen und jeden Zoll absuchen, bis jetzt aber keine Spur gefunden haben.«
Richard seufzte enttäuscht. »Na gut. Danke. Am besten gehst du etwas essen.«
Der Mann salutierte und verabschiedete sich. Seit zwei Wochen, beginnend eine Woche nach dem Aufbruch der Streitmacht, hatten Richard jeden Tag Boten Bericht erstattet. Da das Heer sich aufgeteilt hatte, um verschiedene Routen abzudecken, schickte jede Gruppe ihre eigenen Boten. Dies war an diesem Tag der fünfte.
Berichte über Ereignisse zu hören, die Wochen zuvor, als die Boten von ihren Einheiten aufgebrochen waren, geschehen waren, das war, als sähe man dabei zu, wie Geschichte passierte. Welche Entwicklung ihm auch zu Ohren kam, sie hatte in der Vergangenheit stattgefunden. Soweit Richard wußte, konnte es sein, daß sie Kahlan vor einer Woche gefunden hatten und sich auf dem Rückweg befanden, während er noch immer Berichte über Mißerfolge zu hören bekam. An diese unerschütterliche Hoffnung klammerte er sich vor allem.
Er hatte die Zeit genutzt und sich von all den Sorgen nicht ablenken lassen, indem er an der Übersetzung des Tagebuches arbeitete. Das vermittelte ihm weitgehend das gleiche Gefühl wie der Erhalt der täglichen Berichte, wie das Beobachten des Ablaufs der Geschichte. Schon bald verstand Richard mehr von diesem Dialekt des Hoch-D’Haran als Berdine.
Da er die Geschichte von Die Abenteuer von Bonnie Day kannte, hatten sie größtenteils damit gearbeitet und, nachdem sie die Bedeutung der Wörter herausgefunden hatten, eine lange Liste mit Vokabeln erstellt, die ihnen Anhaltspunkte für das Tagebuch lieferten. Durch das Lernen der Wörter konnte Richard immer größere Teile des Buches lesen, indem er den genauen Wortlaut Stück für Stück zusammensetzte. Das wiederum ermöglichte ihm, immer mehr Leerstellen in seinem Gedächtnis aufzufüllen und dadurch noch mehr Wörter zu verstehen.
Mittlerweile war es oft einfacher für ihn, sein frischgewonnenes Wissen einfach zu benutzen, um direkt aus dem Tagebuch zu übersetzen, als es Berdine zu zeigen und sie die Arbeit machen zu lassen. Er fing an, im Schlaf auf Hoch-D’Haran zu träumen und es im Wachzustand zu sprechen.
Der Zauberer, der das Tagebuch geschrieben hatte, nannte nirgendwo seinen Namen. Es handelte sich nicht um offizielle Aufzeichnungen, sondern um ein privates Tagebuch, daher hatte er keinen Grund, sich mit Namen zu nennen. Berdine und Richard waren dazu übergegangen, ihn Kolo zu nennen, eine Kurzform für koloblicin , ein hoch-d’Haranisches Wort, das ›Starker Ratgeber‹ bedeutete.
Mit Richards wachsendem Verständnis des Tagebuches trat ein zunehmend beängstigendes Bild zutage. Kolo hatte sein Tagebuch während jenes Krieges in der Vorzeit geführt, in dessen Folge die Türme der Verdammnis im Tal der Verlorenen aufgestellt worden waren. Schwester Verna hatte ihm einmal erzählt, die Türme hätten dieses Tal mehr als dreitausend Jahre lang bewacht und hätten einzig dem Zweck gedient, einen großen Krieg zu verhindern. Nachdem er erfahren hatte, wie verzweifelt diese Zauberer daran gearbeitet hatten, die Türme zu aktivieren, bereitete es Richard zunehmend Sorge, daß er sie zerstört hatte.
An einer Stelle hatte Kolo davon gesprochen, daß seine Tagebücher ihn seit seiner Jugend begleitet und er etwa eins pro Jahr vollgeschrieben habe. Dieses, Nummer siebenundvierzig, mußte also verfaßt worden sein, als er irgendwo zwischen Anfang und Mitte fünfzig war. Richard hatte vor, in die Burg zu gehen und Kolos andere Tagebücher zu suchen, doch dieses barg noch immer viele Geheimnisse.
Offenbar hatte Kolo in der Burg die Aufgabe eines Vertrauten und Ratgebers innegehabt. Die meisten Zauberer besaßen beide Seiten der Gabe, die Additive sowohl als auch die Subtraktive, einige jedoch nur die Additive. Kolo empfand großes Mitleid mit denen, die nur mit einer Seite der Gabe geboren waren, und hatte das Gefühl, sie in Schutz nehmen zu müssen. Viele betrachteten diese ›unglücklichen Zauberer‹ angeblich als nahezu hilflos, Kolo jedoch war der Ansicht, daß sie auf ihre einzigartige Weise auch ihren Teil beitragen konnten, und setzte sich für ihre
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