Die Günstlinge der Unterwelt - 5
Lunetta? Der Schöpfer hat sich durch sein hinterhältiges Tun verraten. Er ist es, der die Gabe schafft. Er hat versucht, mich reinzulegen. Jetzt ist es an mir, die Welt von allem Bösen zu befreien. Jeder, der die Gabe hat, muß sterben. Der Schöpfer ist ein Verderbter.« Lunetta stockte vor Ehrfurcht der Atem. »Mama hat immer schon gesagt, daß Ihr ein Mann seid, der es noch sehr weit bringen wird.«
Nachdem er die leuchtende Kugel auf dem Tisch abgelegt hatte, stand Richard vor dem Brunnen in der Mitte des Raumes. Was sollte er tun? Was war diese Sliph, und wie sollte er sie rufen?
Er schritt die hüfthohe Rundmauer ab, blickte hinunter in die Dunkelheit, konnte aber nichts entdecken.
»Sliph!« rief er in das bodenlose Loch hinein. Das Echo seiner Stimme hallte herauf.
Richard lief auf und ab, raufte sich die Haare, versuchte verzweifelt zu überlegen, was er machen sollte. Die Gegenwart eines anderen Wesens ließ seine Haut kribbeln. Er hielt inne, hob den Kopf und sah einen Mriswith neben der Tür stehen.
»Die Königin braucht dich, Hautbruder. Du mußt ihr helfen. Rufe die Sliph.«
Er rannte hinüber zu der dunklen, schuppigen Gestalt. »Ich weiß, daß sie mich braucht! Wie kann ich diese Sliph rufen?«
Der Schlitz eines Mundes weitete sich. Es sah aus wie ein Lächeln. »Du bist der erste seit dreitausend Jahren, der mit der Kraft geboren wurde, sie zu wecken. Den Schild, der uns von ihr trennt, hast du bereits durchbrochen. Du mußt deine Kraft ausnutzen. Rufe die Sliph mit deiner Gabe.«
»Mit meiner Gabe?«
Der Mriswith nickte. Seine kleinen runden Augen blieben auf Richard geheftet. »Rufe sie mit deiner Gabe.«
Schließlich kehrte Richard dem Mriswith den Rücken zu und ging zurück zu der Steinmauer, die die tiefe Grube umgab. Er versuchte sich zu erinnern, wie er in der Vergangenheit von seiner Gabe Gebrauch gemacht hatte. Sie war immer instinktiv gekommen. Nathan hatte gesagt, so funktioniere das eben bei einem Kriegszauberer: aus Verlangen – und über den Instinkt.
Er mußte dafür sorgen, daß sein Verlangen die Gabe hervorrief.
Richard ließ das Verlangen brennend heiß durch seinen Körper ziehen, durch sein ruhiges Zentrum. Er versuchte nicht, die Kraft herbeizurufen, er schrie vor Verlangen danach.
Er reckte die Fäuste in die Luft, legte den Kopf in den Nacken. Er ließ das Verlangen ganz von sich Besitz ergreifen. Er ließ alles fahren, was ihn unbewußt zurückhielt. Er versuchte, nicht daran zu denken, was er tat, verlangte nur, daß es geschah.
Er war auf die Sliph angewiesen.
Er stieß einen stummen Wutschrei aus.
Komm zu mir!
Er lockerte die Kraft, so wie man einen tiefen Atemzug herausläßt, und verlangte, daß es geschah.
Zwischen seinen Fäusten entzündete sich das Licht. Das war es – der Ruf – er wußte es, spürte es, hatte verstanden. Jetzt wußte er auch, was er zu tun hatte. Die sanft glühende Masse rotierte zwischen seinen Fäusten, während ineinander verflochtene Adern aus Licht an seinen Armen hinaufkrochen und in die pulsierende Kraft zwischen ihnen strömten.
Als er spürte, daß die Kraft ihren Höhepunkt erreichte, riß er seine Hände nach unten. Die Lichtkugel schoß unter Geheul davon, hinab in die Dunkelheit.
Im Herabstürzen erzeugte sie einen Ring aus Licht auf dem Mauerwerk. Der Lichtring und die glühende Masse wurden kleiner und kleiner, das Heulen wurde in der Ferne schwächer, bis er weder sehen noch hören konnte, was er angerichtet hatte.
Richard hing über die Steinmauer gebeugt und blickte in den bodenlosen Schlund hinab, aber alles war still und dunkel. Er konnte nur seinen eigenen keuchenden Atem hören. Er richtete sich auf und warf einen Blick über die Schulter. Der Mriswith beobachtete ihn, machte aber keine Anstalten, ihm zu helfen. Was immer getan werden mußte, blieb Richard überlassen. Hoffentlich reichte es.
In der Stille der Burg, in der Ruhe der Berge aus totem Gestein, die sich rings um ihn erhoben, war plötzlich ein fernes Poltern zu hören.
Ein lebendiges Poltern.
Richard beugte sich wieder über die Mauer, blickte nach unten, konnte aber nichts erkennen. Und doch spürte er etwas. Das Gestein unter seinen Füßen bebte. Steinstaub stand in der zitternden Luft.
Richard blickte noch einmal in den Brunnen hinab und sah einen Widerschein. Der Brunnen füllte sich – nicht so, wie er sich mit Wasser gefüllt hätte, sondern irgend etwas kam mit unfaßbarer Geschwindigkeit unter heulendem Kreischen den
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