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Die Gutachterin

Die Gutachterin

Titel: Die Gutachterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Art abwesenden Trance das Telefon anstarrte. Die Sitzung mit einem Klienten dauerte fünfzig Minuten. Richard wußte es. Wann immer es ihm möglich war, hatte er dann in der einundfünfzigsten Minute bei ihr angerufen …
    »Liebe Frau Richter, machen Sie sich keine Sorgen, wir werden das schon schaffen«, sagte sie zu der neuen Patientin. »Aber einen unbekannten, schwierigen Weg zu gehen bedeutet auch, die Abgründe zu betrachten. Wir sollten uns das so vorstellen: Es ist wie ein gefährlicher Weg durchs Gebirge, und man geht ihn gemeinsam. Das Wichtigste dabei ist der Wille, sich gegenseitig zu helfen. Und Hilfe bedeutet in diesem Fall nichts zu verschweigen, Hilfe bedeutet hier totale Offenheit.«
    Sie war eine Frau wie eine Festung, diese Elli Richter: Mächtige Schenkel, mächtige, fettgeschwollene Arme, der runde Kopf auf breitem Speckhals, die Augen wie schmale Schießscharten in das dicke Gesicht geschnitten – doch der Blick dahinter, ein Blick aus hellen, graublauen Pupillen, wirkte wie das verzweifelte Hilfesignal eines verstörten, verschüchterten Kindes.
    Dies war die dritte Sitzung mit ihr. Bei den ersten beiden Besuchen war nicht viel mehr herausgekommen als hemmungsloses Schluchzen. Einer der Internisten, mit denen Isabella zusammenarbeitete, hatte sie ihr geschickt. Elli Richter litt unter Bulimie, krankhafter Eßgier, und was das bedeutete, war auf dem Foto ersichtlich, das sie gleich bei ihrem ersten Besuch aus der Handtasche herausgezerrt hatte: »Sehen Sie sich das an, Frau Doktor. Und sehen Sie genau hin.«
    Gewiß, schlank war Elli Richter auch damals nicht gewesen, aber doch in keiner Weise mit dem Fettklotz von Frau vergleichbar, der nun vor ihr saß. Vor zwei Jahren hatte ihr Mann sie verlassen. Und es handelte sich um die klassische Ich-hol-mir-noch-ein-paar-Zigaretten-Flucht. Er hatte seine Autowerkstatt aufgeräumt, noch einmal angerufen und sich dann nie mehr gemeldet. Durch Zufall erfuhr Elli Richter, daß er irgendwo in Tschechien mit einer anderen zusammenlebte und für einen Autokonzern arbeitete.
    »Ich habe doch alles für ihn getan, Frau Doktor. Und er hat sich doch immer auf mich verlassen … Und das konnte er, glauben Sie, immer hat er gesagt: ›Was wäre ich denn ohne dich, Elli …?‹ Selbst die Steuer, alles hab' ich für ihn gemacht, alles …«
    Und alles kontrolliert, dachte Isabella. Man brauchte kein therapeutisches Genie zu sein, um die Situation zu erkennen.
    An diesem Morgen schien Elli Richter zum erstenmal ruhig und aufnahmefähig. Und so versuchte Isabella ihr einen ersten Einblick zu geben, vorsichtig noch, man durfte sie nicht überfordern mit der Erkenntnis, daß das, was sie als ›Fürsorge‹ empfunden hatte – dieses ewige ›Ich muß mich doch um alles kümmern‹ –, von ihrem Mann als Dominanz, ja als Herrschsucht ausgelegt worden war, und daß die eigene Angst, alles regeln und ordnen zu müssen, wiederum nur Folge der Furcht und der Unsicherheit war, die sie als Kind unter einer gleichfalls dominanten Mutter erlebt hatte. Es war das alte Lied, die alte Leier, das alte Spiel …
    »Was wir brauchen, Frau Richter, ist gewissermaßen ein neues Drehbuch. Das alte taugt nichts. Und wir können es nicht umschreiben. Das alte müssen wir wegwerfen, verbrennen – verstehen Sie das?«
    Elli Richter sah sie nur an.
    Ein neues Drehbuch, dachte Isabella – was du empfiehlst, ist genau das, was du selber brauchst.
    Sie fühlte den Druck an den Schläfen zunehmen. Sie hörte ihre Stimme, die ihr plötzlich sonderbar kraftlos erschien. In ihrer Hilflosigkeit, bei dem Versuch, Trost bei sich selbst zu finden, hatte die Frau vor ihr alles an Essen hinuntergeschlungen, was sie erreichen konnte, ganz so, als könne sie sich damit für den Liebesentzug entschädigen. Ein klares kompensatorisches Verhalten …
    Ihr Blick fiel auf die Uhr.
    Die Sitzung würde noch zwanzig Minuten, bis elf Uhr fünfzig, andauern. Dann kam ein neuer Klient, kam das nächste verpfuschte Leben, das nächste Scheitern, die nächste Katastrophe.
    Und in diesen zehn Minuten der Entspannung und Unterbrechung würde ihr vermutlich nichts anderes einfallen, als die Uhr auf ihrem Schreibtisch anzustarren; denn immer wenn der Zeiger von fünfzig auf sechzig rückte, hatte er angerufen …
    Ihre Lippen sonderten weiter beruhigende Worte ab, suchten Beispiele, und die Sätze, die kamen, folgten dem eingefahrenen Geleise hundertmal wiederholter Ratschläge.
    Ein neues Drehbuch?
    Und wie recht du

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