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Die gute Stadt Paris: Roman (German Edition)

Die gute Stadt Paris: Roman (German Edition)

Titel: Die gute Stadt Paris: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Merle
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Klatschweiber hervor, welches ich heute noch lebhaft in meiner Erinnerung vor mir sehe, denn sie hatte einen so mächtigen Busen und starken Hintern, daß es aussah, als trüge sie vorn und hinten je zwei Säcke (welch letztere durch ihr Gewicht etwas den Rücken hinuntergerutscht schienen); ihr rundes, gerötetes Gesicht zum Himmel reckend, rief sie mit lauter Stimme aus:
    »Was suchet ihr? Bei meiner Seel, ihr werdet nichts finden, das kann ich euch versichern, ihr Einfaltspinsel von Männern! Man braucht sich das Hirn nicht groß zu zermartern, um zu begreifen, was geschehen ist. Ein gütiger Engel Gottes, besorgt darob, daß dieser arme rothaarige Irre vor Unserer Lieben Frau zu Carole nicht die Mütze abgenommen, hat ihm selbige unversehens vom Kopf gezogen und in den Himmel mitgenommen, sie als Opfergabe und Ruhmeszeichen zu Füßen der gebenedeiten Jungfrau zu legen, welche der Herr Jesus, ihr Sohn, auf immer segnen möge.«
    »Amen«, rief die Menge wie mit einer Stimme, jedoch noch zögernd und schwankend, wie ich sah, denn diejenige, welchegesprochen, war nur ein Weib, und nach der Volksmeinung sitzt der Verstand des Weibes zwischen ihren Schenkeln. So konnten sich die Besessenen nicht entscheiden, ob sie nun meinen Samson niedermetzeln oder laufen lassen sollten, und rührten sich darum nicht von der Stelle, was eine große Gefahr für uns bedeutete, denn jederzeit hätte ein von Gott Erleuchteter uns von neuem im Namen der Jungfrau die Menge auf den Hals hetzen können. Da entschloß ich mich, den groben Faden des Klatschweibes weiterzuspinnen und meinerseits den armen Götzenanbetern blauen Dunst vorzumachen. Gewißlich war solches Lügerei, doch gebietet es nicht die Klugheit, zu den Menschen nach Maßgabe ihrer eigenen Narrheit zu sprechen, wenn der gesunde Verstand nichts auszurichten vermag?
    Und so stieg ich flugs auf einen Prellstein der Toreinfahrt und rief:
    »Liebe Leute, ich spüre es in mir: die Gevatterin hat wahr gesprochen! Der barmherzige Engel hätte meinen Bruder ebensogut lebendig zu Asche verbrennen können, anstatt ihm die Mütze abzunehmen. Er hat solches nicht getan, weil er Mitleid empfand mit diesem Armen, dessen Verstand – wie ich bereits dem Sergeanten vermeldet – vollständig verwirrt ist, so daß er nicht weiß, was er tut, noch was er spricht, und bald behauptet, er wäre ein Hugenott, bald beteuert, er wäre ein Jude oder gar ein Türke. Darf man einem Irren einen Vorwurf aus seiner Narrheit machen? Einem Kinde, welches Dummheiten schwatzt, einen Vorwurf aus seiner Unvernunft? Oh, liebe Leute, dieser Unschuldige hat ein so gutes Herz, daß der Herrgott, welcher ihm keinen Verstand verliehen, ihm in seiner Güte dafür ein um so schöneres Angesicht und einen um so stattlicheren Leib gegeben, damit ein jeder bei seinem Anblick wisse, daß er wohl arm im Geiste, jedoch ein Engel sei, den der Herrgott nach seinem Tode ins Paradies einlassen wird.«
    Worauf der Sergeant, sei es, daß meine Worte ihn überzeugt hatten, sei es, daß er dem Straßentumult ein Ende setzen wollte, mit lauter Stimme »amen« rief.
    Allein, der Volkshaufe zögerte immer noch, bis derselbige, welcher zuvor noch behauptet hatte, die Heilige Jungfrau habe den Tod meines armen Samson gefordert, plötzlich rief – nachdem er sowohl die Gevatterin als auch mich von einem Engel hatte sprechen hören –, daß die Sache ganz gewißlich wahr sei,denn er habe mit eigenen Augen einen hellen Schein über dem Kopfe meines Samson gesehen, und einen Augenblick später sei die Mütze verschwunden gewesen.
    Dieses Zeugnis gab schließlich den Ausschlag. Es verbreitete sich allgemeines Staunen ob dieses augenscheinlichen Wunders, und ein jeder begann, meinen Samson mit anderen Augen zu betrachten, wobei die einen seine engelsgleiche Schönheit lobten, die anderen sein verwirrtes und umnachtetes Hirn bedauerten und die Frauenzimmer, ihre Scheu ablegend, sich ihm näherten, seine Schulter zu berühren oder ihm ein Haar auszuziehen (denn rotes Haar bringt Glück); und da mein Samson in seiner Verwirrung alles geduldig mit sich geschehen ließ, brachte man ihm am Ende Milch, drückte ihm kleine Geldstücke in die Hand (welche er nicht verweigerte), bedüftete ihn mit Moschus und Benzoe, wofür sich mein hübscher Bruder bei einem jeden von Herzen bedankte. In seiner Arglosigkeit vermeinend, daß diesen armen Sündern die Augen aufgegangen und sie von ihrer Götzenanbetung bekehret seien, nannte er sie mit sanfter

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