Die gute Stadt Paris: Roman (German Edition)
Stimme »meine Brüder« und »meine Schwestern«, sie dabei aus seinen blauen Augen mit unendlicher Güte anblickend. »Bei Gott!« rief ein Frauenzimmer aus, »es ist unbestreitbar, daß der Arme nicht richtig im Kopfe ist! Denn wenn er bei Verstande wäre, würde er uns wohl nicht so lieben!« Und küßte ihm die Hand und das Wams. Die Herzen aller waren schließlich so gerührt von seiner Unschuld, seiner Schönheit als auch der Sanftheit seines Betragens, daß ich einen Augenblick lang glaubte, die Menge würde ihn im Gefolge der gebenedeiten Jungfrau als einen Begnadeten, an dem Maria ein Wunder bewirkt, auf den Schultern durch die Straßen tragen.
Die Priester jedoch, von welchen keiner dieses Schauspiel hatte beobachten können, da es sich am Ende des langen Prozessionszuges begab, wurden schließlich mit Besorgnis gewahr – wie man mir später berichtete –, daß ihnen nur noch ein Teil ihrer Schäflein folgte. So schickten sie einige Schwarzröcke aus, die fromme Herde wieder zusammenzuholen, was diese
missi dominici
1 mit einer wundersamen Schnelligkeit taten – so groß ist die Macht, welche die Geistlichkeit, dem Himmelsei es geklagt, in diesem papistischen Paris über ihre blutgierigen Schafe ausübt.
Als letztere schließlich davongegangen, um in der Rue aux Ours eine Puppe aus Weidengeflecht in Brand zu stecken – ein armseliges Opfer, da sie doch das schöne rote Blut meines Bruders hätten haben können, um jenes zu rächen, welches vor einhundertvierundvierzig Jahren von dem angeschlagenen Stein ihres Götzenbildes vergossen ward –, fragte ich den Sergeanten, ob er mir den Gefallen täte, mit uns eine Flasche zu leeren, uns gemeinsam nach der gehabten Aufregung zu stärken. Nach einigem Zögern willigte er ein und führte uns unter tausend höflichen Danksagungen in eine nahe Wirtschaft, in welcher er wohl recht bekannt war; denn kaum war er eingetreten, als ihm auch schon eine ungenierte Schöne unter vielerlei Lächeln und koketten Blicken einen ausgezeichneten Wein auftischte, welchen ich endlich einmal nicht zum Pariser Preis zahlte. Wir fünf hatten die Flasche im Handumdrehen geleert, und ich wollte aus Höflichkeit eine zweite bestellen, doch der Sergeant lehnte mit erhobener Hand ab, hinzufügend, daß er als Fechtmeister im Louvre nur wenig trinke, insonderheit des Nachmittags, wenn er noch einige Fechtübungen zu absolvieren hätte, wofür er sich bei Kräften halten müsse. Darauf hub ich schon an, ihm zu berichten, wer Giacomi sei, doch ich besann mich, da ich bemerkte, daß dieser mit undurchdringlichem Gesicht schwieg: der Maestro war sehr wählerisch bezüglich des Standes der Personen, mit welchen er sich herbeiließ, die Klinge zu kreuzen, nicht weil er über die Maßen von sich eingenommen gewesen wäre, sondern weil er seine Kunst so überaus hoch schätzte, daß er es von sich wies, sie mit einem plumpen Raufbold herabzuwürdigen. An einigen fast unmerklichen Anzeichen vermeinte ich jedoch zu erkennen, daß er den Sergeanten genüglich schätzte, welcher in der Tat Manieren und ein Betragen hoch über seinem Stande an den Tag legte: er war höflich und in allem höchst zurückhaltend, zudem schweigsam bezüglich seiner Person sowie wenig neugierig bezüglich anderer und wider Erwarten auch ohne jede Eitelkeit ob seiner Leibeskraft und -größe, welche alles übertraf, was ich bis zu jenem Tag gesehen. Obgleich seine Stimme gar kräftig war und bei Gelegenheit der Donner tönen konnte, so sprach er im engeren Umgang doch in sanftem Tone undauch nur wenig, wobei sein Auge gelassen und seine Gesten beherrscht blieben.
Ich nannte meinen Namen und wessen Sohn ich sei, was er mit großer Aufmerksamkeit vernahm, denn auch sein Vater, welcher ebenfalls – wie schon vor ihm sein Großvater und sein Urahn – das Waffenhandwerk ausgeübt, hatte bei Calais gekämpft. Mich deuchte, daß dies »Calais« ihm die Zunge ein wenig löste, denn er erzählte, er sei zu Thoulouse geboren und heiße Rabastens. Und als ich, reichlich erstaunt darob, daß er aus dem Süden war, ihn fragte, wieso er das Französische im Tonfall der Pariser spreche, antwortete er lächelnd, daß er gar viele Mühen und Schweiß darauf verwendet, da die Pariser in ihrem Hochmut eine andere Sprechweise als die ihre nur schwer erdulden. Darüber mußten wir lachen wie er selbst, denn er wußte sehr wohl, was wir aus Okzitanien davon hielten.
Nachdem diese stillschweigende Übereinstimmung uns das Mundwerk
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