Die gute Stadt Paris: Roman (German Edition)
zu schauen, sondern nach ihrer Rückkehr in die Normandie davon auch zu erzählen. Statt dessen machte ich ihr nun den Vorschlag, sich in ein ödes kleines Nest auf dem Lande zurückzuziehen, wo sie tagsüber meinen hübschen Bruder kaum zu Gesicht bekäme (denn der steckte ja hinter seinen Arzeneigefäßen), so daß ihr nichts anderes bliebe, als sich faul im Bett zu rekeln, um wieder Kräfte für die kommende Nacht zu sammeln.
»Meine Schwester«, sprach ich da recht kühl zu ihr, »wie immer Ihr Euch entscheiden möget – da Meister Béqueret meinen Samson aufzunehmen gewillt ist und dieser schier darauf brennt, sich in dessen Apotheke zu betätigen, bin ich entschlossen, ihn morgen ungesäumt nach Montfort-l’Amaury zu geleiten, ob Ihr nun mitkommt oder nicht.«
»O mein Bruder!« rief sie, sich erhebend, ein geziemendes Tränchen in den grünen Augen, »wie hart und grausam seid Ihr zu mir! Vergeltet Ihr mir so die große schwesterliche Liebe, die ich für Euch hege? Kaum bin ich zu Paris angelangt, stellt Ihr mich vor die Wahl, mir entweder meinen Samson zu entführen oder, so ich ihm nachfolge, mich all der schönen Feste zu berauben!«
»Hoho, Gertrude«, erwiderte ich, »das sieht Euch ähnlich! Ihr wollt alles haben: Samson, die Festlichkeiten und was weiß ich noch! Doch warum, liebe Schwester, reist Ihr nicht morgen mit meinem Samson nach Montfort-l’Amaury, bleibt eine Woche lang bei ihm, kehrt dann allein – höret wohl: allein – zu den hochzeitlichen Festen nach Paris zurück und begebt Euch, sobald diese beendet, wieder ungesäumt nach Montfort?«
»Liebster Bruder, welch kluger Kopf seid Ihr doch!« rief sie aus. »Ihr habt aus meiner mißlichen Lage den einzig glücklichen Ausweg gefunden!«
Indes die überschwengliche Freude ihr die Träne schon völlig getrocknet hatte, hauchte sie mir noch zwei, drei Küsse auf die Wangen, vollführte mit wippendem Rock eine Drehung und sprach:
»Es ist beschlossen! Ich werde die Reise machen. O mein Bruder, mir wachsen Flügel! Wo ist dieser Gottesengel, den ich mitnehmen soll?«
Sie folgte mir, indes ich die Stiege hinauflief, und über die Schulter blickend, sah ich, wie sie, um schneller laufen zu können, mit beiden Händen ihre prächtigen Röcke raffte, eine leichte Röte in ihrem hellen Gesicht und ein Blitzen in den grünen Augen wie eine Katze, die einen Spatzen zwischen ihren spitzen kleinen Zähnen hält.
Von dem Kämmerlein, darinnen Samson noch schlief – Giacomi war wohl zur Beichte und zum Abendmahl –, sah sie nichts: weder den schlecht gefügten Fußboden noch die schmutzigen Wände, nicht die drückende Enge und die schäbige Ausstattung, auch nicht das offene Fenster mit dem Friedhof der Unschuldigen Kindlein dahinter, nichts also, sage ich, außer meinen schönen Bruder, welcher in der Hitze des Augustmonats nackend auf seinem Lager schlief. Gewißlich war er ganz prächtig anzusehen in seiner Nacktheit und der männlichen Gestaltung seines Leibes, weiß die Haut, rot das Haar und das Auge himmelblau, nur daß sein Auge nicht zu sehen war, denn er schlief ja noch …
»Heilige Jungfrau!« rief Dame Gertrud, die Hände aneinanderlegend, »wie der liebe Jesus! Ist er nicht von geradezu göttlicher Schönheit?«
»Göttlich, Madame?« gab ich lächelnd zu bedenken.
»Ach, Ihr!« erwiderte sie, mir einen leichten Schlag auf die Hand versetzend, »müßt Ihr mir meine Sünden immer mit solcher Boshaftigkeit vorhalten, wo ich sie doch in dem Augenblick, da ich sie begehe, zu vergessen suche und die Reue auf später verschiebe!«
»Meine Schwester«, sprach ich, ihr die weiche, wohlriechende Handfläche küssend (mit der sie mich geschlagen), »ich bitte tausendmal um Verzeihung, daß ich so gemein den Freudenverderber und Scheinheiligen gespielt – ich, der ich diese Freuden über alles schätze! Kein solches Wort soll mehr über meine Lippen kommen, Schwester, alljetzt überlasse ichEuch Eurer schönen Sünde. Am Abend werde ich kommen, Euch zum Essen abzuholen. Und morgen werden wir uns bei Tagesanbruch auf den Weg nach Montfort machen.«
Worauf ich sie wieder auf ihre zarten Wangen küßte und sie verließ (sie beide, sollte ich sagen), nicht ohne daß mir das Herz schwer ward und ich einen schmerzlichen Seufzer tat.
Da meine Kammer in ihrer Einsamkeit mir Mißbehagen einflößte, stieg ich traurigen Gemüts in die Werkstatt hinab, worinnen ich niemanden anzutreffen vermeinte, denn Miroul striegelte die Pferde; doch ganz
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