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Die gute Stadt Paris: Roman (German Edition)

Die gute Stadt Paris: Roman (German Edition)

Titel: Die gute Stadt Paris: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Merle
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Hat man sie alle gezählt?«
    »Gewiß!« erwiderte Aymotin stolz erhobenen Hauptes, als ob sie alle ihm gehörten. »Höret Euch diese Verse an, welche ich in der Schule gelernet:
    In der Altstadt, ja, das weiß ich,
    gibt es der Straßen sechsunddreißig.
    Im Viertel Hulepoix fürwahr,
    da gibt es dreiundachtzig gar.
    Doch geht’s in Saint-Denis ans Zählen,
    nur sechse an dreihundert fehlen.
    Nun kann ein jeder wohl ersehn,
    daß dies ergibt vierhundertdreizehn.«
     
    »Vierhundertdreizehn Straßen!« rief ich aus. »Wie soll man da jemand finden, von dem man nur den Namen weiß, nicht aber, wo er wohnt?«
    Hierauf fragte mich Aymotin mit einem seltsamen Blick, ob ich mich in einer solchen Lage befände, allein ich wollte ihmnicht von meiner Angelina sprechen, obgleich der Gedanke an sie, die so nahe und gleichzeitig so unerreichbar war, mich schier zur Verzweiflung brachte, und so sagte ich ihm, daß ich einen meiner Freunde suche, welcher gleich mir Doktor der Medizinischen Schule zu Montpellier sei (bei welchem Namen ihn ein leichtes Zittern durchlief, obgleich er immer auf der Hut zu sein schien, mit wachem Blick in den sanften Augen und einem ständigen Lächeln wie eine Maske auf seinem hübschen Angesicht).
    »Er nennt sich«, fuhr ich fort, »Fogacer, und wiewohl wir ganz unterschiedlicher Natur sind, denn er fühlt sich höchst wenig angezogen von einem Weiberrock, währenddessen ich höchst erpicht darauf bin, sehen wir über diese kleinen Unterschiede hinweg und sind enge Freunde geworden. Kennt Ihr ihn vielleicht?«
    »Nein, mitnichten«, antwortete Aymotin ohne Zögern, aber gesenkten Blicks, und wandte sich ab.
    »Aymotin«, sprach ich nicht ohne Wärme in der Stimme, »so Ihr ihn kennet, wäre es den Galgen wert, mir nicht zu sagen, wo er sein Quartier hat, denn ich trage gar großes Verlangen, ihn wiederzusehen.«
    Da wandte Aymotin sich um, trat einen Schritt auf mich zu und sprach, mich Auge in Auge anblickend, mit einer Ernsthaftigkeit, welche ich angesichts seines Alters wie des heiteren Wesens, das er an den Tag gelegt, von ihm nicht erwartet hätte:
    »Monsieur, als Geistlicher bin ich meinem Stande gemäß verschwiegen. Ich bin es mehr noch durch meine Veranlagung, welche so ist, wie Ihr wohl seht. Mein Gedächtnis ist also einem Grabe gleichgeworden. Ein Gesicht, ein Name, ein Wohnort, alles versinkt darin und wird begraben. Und niemals mehr erinnere ich mich an etwas, das einem anderen zum Schaden gereichen könnte.«
    Diese bewundernswerte Erklärung bestärkte mich in der Überzeugung, daß Aymotin zu jener großen Brüderschaft gehöre, deren Mitglieder aus Ursach der großen Begierde, welche sie zueinander tragen, alle Unterschiede des Standes, des Wissens, des Reichtums oder der Religion zwischen sich abschaffen und in solcher Gleichheit ihren gefahrsamen Leidenschaften nachgehen und sich dabei gegenseitig die allergrößte Verschwiegenheitgeloben, denn würden sie entdeckt, gäbe es weder für den einen noch für den anderen die geringste Gnade.
    »Aymotin«, sprach ich, »nun gut. Ich habe Euch verstanden. Doch bitte ich Euch, ein einziges Mal einen Namen und einen Wohnort nicht zu vergessen und sie dem vorgemeldten Medicus anzuvertrauen, so das Schicksal will, daß Ihr ihm begegnet. Ich nenne mich Pierre de Siorac und habe Quartier genommen in der Rue de la Ferronnerie bei dem Mützenmachermeister Recroche. Hier sind die fünf Sols für das Domkapitel und hier fünf für Euch.«
    »Monsieur«, sprach Aymotin, mir unversehens drei Münzen zurückgebend, »es waren nur zwei Sols ausgemacht. Und worum Ihr mich gebeten, erheischt keinen Lohn. Ich werde es tun, so ich es vermag. Guten, ehrlichen und mildtätigen Leuten bin ich gern dienstbar.«
    Worauf er mich anblickte wie die Spätzin ihren Spatz und seine schwarzen Locken von rechts nach links schüttelte; dabei stieß er einen so tiefen Seufzer aus und warf mir einen so mitleiderregenden Blick zu, daß ich ihm gewißlich nachgegeben hätte, wenn er nur von dem zarten Geschlecht gewesen wäre, dem er so heftig anzugehören begehrte. Da mich jedoch bei diesem Gedanken eine gewisse Verlegenheit überkam, beugte ich mich über die Balustrade, auf den Platz hinunterzuschauen, auf welchem die Kleinheit der Leute, aus so großer Höhe gesehen, mich vordem belustigt hatte. Als mein Blick jedoch auf Pompea fiel, welche ich an ihrem roten Fell leicht erkannte, erschrak ich aufs höchste, denn um sie herum war ein großer Tumult im Gange:

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