Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die guten Frauen von Christianssund: Sommerdahls erster Fall (German Edition)

Die guten Frauen von Christianssund: Sommerdahls erster Fall (German Edition)

Titel: Die guten Frauen von Christianssund: Sommerdahls erster Fall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Grue
Vom Netzwerk:
Gørtlergade geparkt hatte, blieben sie ein paar Minuten im Wagen sitzen. Auf dem Beifahrersitz saß Marianne. Ihre Augenpartie war geschwollen, Tränen liefen ihr übers Gesicht, ohne dass sie irgendeinen Versuch unternahm, sie zu stoppen. Auf dem Schoß umklammerte sie Luffes Halsband und die Hundeleine. Das wie ein Knochen geformte Messingschild mit seinem Namen klimperte, wenn sie es berührte. Es klang, als wäre Luffe noch bei ihnen. Auf dem Rücksitz saß Benjamin mit einem versteinerten Gesichtsausdruck und hielt Lauras Hand. Sie hatte offensichtlich keine Tränen mehr, stattdessen staute sich in ihr eine weiß glühende Wut gegen die einzigen Sündenböcke auf, die ihr im Augenblick zur Verfügung standen.
    »Hättet ihr euch auch entschieden, mich einschläfern zu lassen, wenn man mich gegen den Kopf getreten hätte?«, sagte sie plötzlich.
    Marianne drehte sich ruckartig um. »Wie kannst du so etwas überhaupt fragen?«
    »Hättet ihr?« Sie riss ihre Hand zurück und lehnte sich zwischen die Vordersitze.
    »Die beiden Situationen sind überhaupt nicht vergleichbar.« Marianne holte ein Taschentuch aus dem Handschuhfach und putzte sich die Nase. »Bei einem Kind hätte man die Behandlung selbstverständlich durchgeführt. Das ganze Leben läge ja noch vor ihm. Siebzig, achtzig Jahre. Luffe hatte bestenfalls noch ein, zwei Jahre zu leben, und in der ganzen Zeit wäre er auf einem Auge blind gewesen und hätte Schwierigkeiten gehabt, seine geliebten Ochsenknochen zu kauen. Höchstwahrscheinlich hätte die Gehirnerschütterung in der einen oder anderen Form auch Nachwirkungen gehabt. Kopfschmerzen, Krämpfe, wer weiß. Und abgesehen von alldem ist es verboten, Menschen einzuschläfern, egal, welche Schmerzen sie haben.«
    »Luffe hatte es nicht verdient zu sterben!«
    »Natürlich nicht. Aber er hatte es noch weniger verdient, lange Zeit mit starken Schmerzen leben zu müssen und danach möglicherweise auch nicht ganz gesund zu sein«, sagte Dan.
    Laura riss die Autotür auf und verschwand unter lautem Schluchzen im Haus. Ihre Eltern wechselten einen Blick. »Sie braucht ein wenig Zeit.« Marianne putzte sich lange und gründlich die Nase.
    Dan hielt Benjamin zurück, der Laura folgen wollte. »Kannst du uns noch einmal genau erzählen, was eigentlich passiert ist? Ich muss zugeben, dass ich am Telefon nicht viel verstanden habe, und Marianne weiß ja noch gar nichts, außer, dass dein Vater Luffe getreten hat. Es klingt alles total wahnsinnig. Also, was ist passiert?«
    »Wir sind im Wald spazieren gegangen und haben uns unterhalten. Luffe schnüffelte allein herum, wir hatten ihn von der Leine gelassen.« Benjamins Augen waren völlig trocken. Dafür war aber jeder Muskel seines Gesichts angespannt. Seit dem Unglücksfall hatte er niemandem in die Augen gesehen. »Plötzlich entdeckte ich meinen Vater auf der linken Seite des Weges zwischen ein paar Büschen, ganz oben auf dem großen Hügel. Er schaute über einen hohen Zaun, als ob er das Haus dahinter beobachtete.«
    »Weißt du noch, wie das Haus aussah?«
    »Es ist eins von den allergrößten. Weiß, mit einem schwarzen, glänzenden Dach. Und winzigen Fenstern. Es muss die Hölle sein, die zu putzen.«
    »Meine Güte! Das ist Sebastian Kurts Villa.« Dan sah Marianne an. »Was zum Teufel wollte dieser Psychopath bloß dort?«
    Benjamin schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung.«
    »Hast du ihn angesprochen?«, fragte Marianne.
    »Hältst du mich für verrückt? Als ich ihn gesehen hatte, habe ich Lauras Arm gegriffen und sie weggezogen.« Er hob den Kopf. »Aber Laura sagte nur ›Was ist?‹. Total laut, und dann lachte sie. Vielleicht dachte sie, ich würde Quatsch machen, und in dem Moment hat er sich umgedreht, mein … mein Vater.«
    »Wie weit entfernt von ihm wart ihr?«, wollte Dan wissen.
    »Zehn, fünfzehn Meter ungefähr. Luffe war vorausgelaufen, ihn konnte er nicht sehen, als er sich zu uns umdrehte.« Benjamin schluckte. »Er hat mich natürlich sofort erkannt. ›Mark!‹, brüllte er. Wie an dem Tag, an dem ich ihm in der Stadt entkommen bin. Ich schrie, dass er sich von mir fernhalten und nach Århus abhauen soll, dass er ein Psychopath sei. Dann lief er mir hinterher. Ich war so durcheinander, weil ich ja auch die Verantwortung für Laura hatte. Und für Luffe. Und dann …« Er verstummte.
    »Hat er dich erwischt?«
    »Ja.« Benjamin zog einen langen, dünnen Arm aus dem Jackenärmel und schob den kurzen Ärmel des T-Shirts hinauf.

Weitere Kostenlose Bücher