Die guten Frauen von Christianssund: Sommerdahls erster Fall (German Edition)
mal die Klappe, du Grammatikfreak!« Dan seufzte.
»Okay, er hat mir manchmal schon geschlagen, aber nur, wenn er was getrunken hatte. Hinterher, wenn er wieder nüchtern war, hat er sich immer sehr entschuldigt.« Alice sah niemanden an, sie blickte auf ihre rechte Hand, in der ihre Zigarette in einem wabernden, zweigeteilten Rauchstreifen herunterbrannte. »Wenn ich ehrlich sein soll, dann dachte ich lange, dass eigentlich alles in Ordnung war. Er hat mir zehn Minuten verprügelt und hatte eine Viertelstunde Sex, dann war er ein paar Tage so sanft wie ein Lamm. Ich glaube, deshalb hab ich ihn auch nich’ rausgeschmissen. Das hat die Psychologin gesagt, als ich hinterher …« Ihre Stimme versagte, sie blieb in der gleichen Haltung sitzen, bis die Glut ihrer Zigarette den Filter erreicht hatte und im Gestank von brennender Cellulose und Teer erlosch. Sie blickte verblüfft auf die Kippe, warf sie in den Aschenbecher und zündete sich sofort eine neue an.
»Ist es besser, wenn Benjamin oder wenn ich weitererzähle, Alice?« Mariannes Stimme klang wie eine kühle, plätschernde Quelle nach einer Wanderung über einen flachen, grauen Acker. Dan fiel einmal mehr auf, dass ihre Kindheit am Rande von Randers einen weichen Tonfall hinterlassen hatte. Man hörte es, sobald sie sich mit anderen Jütländern unterhielt. »Ich kenne die ganze Geschichte, und ihr könnt mich einfach korrigieren, wenn ich etwas Falsches sage«, fügte sie hinzu.
Alice zuckte mit den Achseln, noch immer ohne aufzuschauen. Marianne sah zu Benjamin hinüber, der eine perfekte Imitation des mütterlichen Achselzuckens lieferte. Dann lehnte sie sich zurück und begann von vorn: »Also, Dan. Eigentlich ist das eine ganz banale Geschichte, es geht um Gewalt gegenüber Frau und Kindern, aber so einfach ist es auch wieder nicht. Einer der großen Unterschiede besteht nämlich darin, dass John, Benjamins Vater, ungewöhnlich brutal ist und aus diesem Grund im Laufe der Zeit drei Gefängnisstrafen verbüßt hat. Beim ersten Mal bekam er drei Monate wegen Misshandlung seiner Ehefrau, als er Alice und den Kindern in einem Frauenzentrum auflauerte, in dem sie Zuflucht gesucht hatten.«
»Den Kindern? Hast du Geschwister, Benjamin?«
»Ich hatte einen kleinen Bruder. Er ist tot.«
Bei dem Wort zuckte Alice zusammen, blieb jedoch sitzen. Marianne fuhr fort, als hätte sie die Unterbrechung nicht bemerkt: »Als John aus dem Gefängnis kam, hatten Alice und die Kinder neue Namen und eine geheime Adresse in einer anderen Stadt. Geholfen hat es ihnen nichts. John fand sie in weniger als einer Woche, und er bereute, heulte und bettelte, bis Alice – die damals natürlich nicht Alice hieß – ihn wieder aufnahm. Ein paar Monate schien es tatsächlich so, als hätte er sich geändert. Er trank so gut wie nichts und schlug sie nie. Aber selbstverständlich war das nicht von Dauer. Eines Tages ist er mit ein paar alten Kumpel aus Århus in der Stadt unterwegs gewesen. Spätnachts kam er sturzbetrunken zurück nach Hause und riss seine Frau aus dem Bett. Die Prügel, die er ihr gab, glichen dieses Mal einer systematischen Folter. Es hatte sich wohl etwas angestaut in der Zeit, als er sich zurückgehalten hatte. Benjamin wachte auf, lief ins Schlafzimmer und sah, wie sein Vater seine Mutter misshandelte. Er versuchte dazwischenzugehen und wurde ebenfalls verprügelt.«
»Wie alt warst du damals, Benjamin?«, erkundigte sich Dan.
Benjamin räusperte sich. »Sieben«, antwortete er dann.
Marianne schob seiner Mutter, die mit gesenktem Kopf schniefte, die Küchenrolle zu. »Alice musste für mehrere Wochen ins Krankenhaus, die Kinder wurden in einer Ganztagsinstitution untergebracht.«
»Du kannst es ruhig Kinderheim nennen«, warf Benjamin trocken ein.
»Diesmal bekam John drei Jahre ohne Bewährung und eine noch schärfere Auflage, sich auch in Zukunft von seiner Familie fernzuhalten. Zum zweiten Mal änderten Alice und die Kinder ihre Namen und zogen in eine andere Stadt, diesmal noch weiter weg, nach Südjütland. Die örtliche Polizei wurde ausführlich instruiert. Sie versprach, die Familie nach allen Regeln der Kunst zu schützen, wenn John das nächste Mal aus dem Gefängnis kam. Sie erhielten sogar einen Alarmknopf, den sie drücken sollten, sobald er auftauchte.« Marianne verstummte. Im Wohnzimmer waren nur zwei Geräusche zu hören: Luffes rhythmisches Schnarchen aus dem Korb in der Ecke und Alices Schniefen, das beinahe ebenso regelmäßig
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