Die guten Frauen von Christianssund: Sommerdahls erster Fall (German Edition)
»Dreißig Jahre? Wie alt ist die noch mal?«
»Man kann durchaus charmant, hilfsbereit und weiblich sein, auch wenn man sich dem Rentenalter nähert, Torp.« Janssen grinste flapsig. In dieser Grundhaltung lag möglicherweise ein Teil des Schlüssels zu Frank Janssens einzigartigem Erfolg beim anderen Geschlecht, dachte Flemming und sah seinen Untergebenen mit neuem Respekt an.
Er ließ sich in einen abgewetzten Sessel fallen. »Hast du mit deiner Bibliothekarin denn auch etwas herausgefunden?«, fragte er. »Facts, Annahmen oder andere Leckerbissen?«
»Leider nicht. Noch nicht.«
»Das kann ich dir jetzt nicht wirklich glauben. Du siehst aus wie eine Katze, die gerade herausgefunden hat, wie man den Deckel der Butterdose beiseiteschiebt.«
»Lass mir Zeit bis morgen. Ich bin noch nicht sicher, aber ich habe eine Idee.« Frank Janssen blickte sehnsüchtig auf seine Zeitungsausschnitte, und Flemming erhob sich.
»Bis morgen früh«, sagte er nur. »Besprechung um 8 . 00 Uhr.«
Nach dem Abendessen saßen alle vier im Wohnzimmer: Dan, Marianne, Alice und Benjamin. Da Dan vermutete, dass Alice das Essen aus dem Wok nicht gewohnt war, hatte er ihr zuliebe Frikadellen mit geschmelzten Zwiebeln, Soße und Kartoffeln gekocht, nun standen Kaffee und ein Absacker auf dem Tisch.
»Wir gingen in die zweite Klasse der Mittelschule, als wir ein Paar wurden«, begann Alice Winther mit tonloser Stimme. Ihr Akzent deutete darauf hin, dass sie in Århus oder der Umgebung aufgewachsen war. »Und mit zwanzig haben wir bereits geheiratet und ihn bekommen.« Alice nickte in Benjamins Richtung. Das Beruhigungsmittel, das Dan ihr vor ein paar Stunden gegeben hatte, war ihr anzumerken. Und vermutlich hatten der Wein, den sie zum Essen getrunken hatte, und der doppelte Baileys, an dem sie jetzt nippte, zusätzlich ihre Wirkung getan. Jedenfalls zitterten ihre Hände nicht mehr, und sie konnte sprechen, ohne ständig in Tränen auszubrechen. Dans Ansicht nach ein unschätzbarer Fortschritt. Die Familienähnlichkeit war nicht zu übersehen, wenn Mutter und Sohn beieinandersaßen. Die nachlässige Haltung, die kurzen, breiten Vorderzähne – die des Sohnes grau, die der Mutter beinahe lila –, die hellen, leicht hervorstehenden Augen. Der Unterschied bestand im Alter, im Geschlecht und in der Maskierung. Benjamin trug seine übliche Kriegsbemalung, die Mutter war ungeschminkt. Ihre sehr hellen Wimpern und Augenbrauen waren auf dem rosafarbenen Ton der Haut kaum zu erkennen. Dan wusste, dass Alice in Mariannes Alter war, ungefähr fünfundvierzig, aber sie sah mindestens zehn Jahre älter aus. Die Haut hing schlaff über der Augenpartie. Von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln zeichneten sich zwei scharfe Furchen ab. Ihr helles Haar war dünn und stumpf, die Frisur bestand in aller Einfachheit darin, dass sie ihr langes Stirnhaar in regelmäßigem Abstand hinter die Ohren strich. Ihre Jeans waren von billigster Qualität, chlorgebleicht und viel zu groß. Vielleicht hatte sie in letzter Zeit abgenommen? Unter der Jeansjacke trug sie eine Bluse und ein hellgelbes T-Shirt, durch das ihre Hautfarbe noch blasser wirkte. Über die Bluse ließ sich freundlicherweise nur sagen, dass sie zu den Nikotinflecken auf dem Zeige- und Mittelfinger ihrer rechten Hand passte. Alice rauchte eine Mentholzigarette nach der anderen. Dan öffnete in regelmäßigen Abständen das Fenster, wenn er zu ersticken drohte, und schloss es, wenn seine Zähne anfingen zu klappern. Verdammt, es ist anstrengend, Flüchtlingszentrum zu spielen, dachte er und hustete.
Benjamin leistete ebenfalls einen ordentlichen Beitrag zur Luftverschmutzung, allerdings nicht ganz so hektisch wie seine Mutter. Offensichtlich trug er dieselben Sachen wie vor zwei Tagen, als er seine tote Kollegin gefunden hatte. Auf jeden Fall roch er so. Er hatte die Gelegenheit genutzt und frisches Make-up aufgelegt – die weiße Maske leuchtete aus der dunklen Ecke, in die er sich gesetzt hatte. Seine Augen waren zwei schwarze Löcher.
Marianne hatte sich neben Alice aufs Sofa gesetzt und hielt ihre Hand.
»Die ersten Jahre waren fantastisch«, erzählte Alice weiter. »Es gab nichts, was er nicht für mir tun wollte. Sicher, er war ziemlich eifersüchtig, aber eigentlich hat mich das sehr geschmeichelt. Das zeigte doch nur, dass er mir mochte.«
Mich!
, dachte Dan.
Mich!
So schwer konnte das doch nicht sein. Er begegnete Mariannes Blick, der ihm erklärte: »Du hältst jetzt einfach
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