Die guten Frauen von Christianssund: Sommerdahls erster Fall (German Edition)
Benjamins Beschreibungen am Vorabend hatte er nicht mit einer Schönheitsoffenbarung gerechnet. Und dennoch. So schlimm hatte er es sich nicht vorgestellt. John musste irgendwann einmal richtig durchtrainiert gewesen sein, vermutlich hatte er Bodybuilding betrieben. Die Größe sah man ihm noch immer an. Allerdings hatten die hervortretenden Muskeln nun Gesellschaft von schweren, ausufernden Fettwülsten bekommen, die hellen Augen lagen tief in ihren Höhlen, und der Unterkiefer sah aus, als könnte man ihn im Notfall auch als Rammbock einsetzen.
Dan steckte den Kopf ins Wohnzimmer, wo Benjamin mit dem Kopf auf Luffes Brustkasten lag und MTV guckte. Er gab ihm ein Zeichen, die Kopfhörer abzusetzen und mitzukommen. Mit einer verblüffenden Geschmeidigkeit war der junge Mann auf den Beinen und folgte Dan in die Küche. Beim Anblick des Fotos, das nun den kompletten Bildschirm des Notebooks ausfüllte, zuckte Benjamin zusammen. Er blieb an der Tür stehen, als wäre es das Klügste, ein wenig Abstand zu halten.
»Ist das dein Vater?«
Benjamin nickte. »Das Bild muss ein paar Jahre alt sein.«
»Fünf Jahre. Hat sich sein Aussehen verändert?«
Benjamin trat vorsichtig ein Stückchen näher. »Er ist gebräunter, und seine Wangen hängen ein bisschen mehr.« Er legte den Kopf schräg. »Der Schnurrbart ist vielleicht etwas länger, aber der Pferdeschwanz sitzt noch genauso. Außerdem ist seine Wampe dicker geworden, und er trägt jetzt eine braune Lederjacke.« Dan arbeitete mit dem Bildbearbeitungsprogramm, und nach wenigen Minuten war Benjamin mit dem Resultat zufrieden. »Ich habe vergessen, mir seine Autonummer zu notieren, aber es ist ein knallblauer Mazda 323 . Nicht die Originalfarbe. Er hat ihn wahrscheinlich selbst umlackiert. Sieht furchtbar aus.«
»Okay.«
»Soll ich ihn suchen?«
»Nichts da. Du bleibst hier und kümmerst dich um deine Mutter. Sie wacht sicher bald auf.« Dan druckte das retuschierte Bild aus, faltete es zusammen und steckte das Foto und die Zeitung in die Tasche seines dicksten Mantels. Dann zog er die Skimütze über die Ohren und leinte Luffe an. »Bist du okay?«, erkundigte er sich bei Benjamin, als er sah, dass die dünne, gebückte Gestalt noch immer an der Tür stand.
»Ja, ja.« Benjamin kraulte Luffe im Nacken. »Ich bin sehr froh über alles, was ihr für uns tut«, murmelte er, den Blick auf den Boden gerichtet. Er drehte sich um, ohne Dan anzusehen, und verschwand auf seinen Platz vor dem Fernseher.
Dan wollte mit seiner Frau zu Mittag essen, allerdings dauerte der direkte Weg von der Gørtlergade zum Ärztehaus nicht einmal fünf Minuten. Er konnte sich Zeit lassen und entschied sich für einen kleinen Umweg durch die schmalen Gassen auf der anderen Seite der Algade, wo in den letzten Jahren eine Reihe neuer Geschäfte eröffnet hatte. Er blieb vor einem Laden stehen, der ihm bisher nicht aufgefallen war. Es gab kein Schild. Die Fensterdekoration bestand aus einer hohen Terrakottavase auf einer Unterlage von Kieselsteinen und Muschelschalen. In der Vase steckten drei weiße Lilien, daneben stand eine ausgestopfte Möwe. Dan hatte keine Ahnung, was in diesem Laden verkauft wurde. Reisen? Beerdigungen? Blumen?
Während er sich noch in Spekulationen verlor, ging die Ladentür auf, und eine blonde Frau trat heraus. Dan erkannte sie sofort: »Ja, das ist ja … hej!«
»Dan! Schön, dich zu sehen!« Henriette Kurt begrüßte ihn sofort auf die südländische Art – drei Küsse in die Luft: einen für die rechte Wange, einen für die linke Wange und dann noch einmal auf der rechten Seite –, dabei hielt sie seine Oberarme fest, sodass er diesem verwirrenden Ritual nicht entkommen konnte. Wie gewöhnlich verwechselte Dan die Seiten, sodass er Frau Kurt beinahe einen Kopfstoß versetzte. Wieso reicht es den Leuten nicht, sich die Hand zu geben, dachte er und trat hastig einen Schritt zurück, als Henriette ihn endlich losließ.
»Na, führst du den Hund aus? Wie heißt sie denn?« Sie entblößte ihre schneeweißen Zähne zu einem Lächeln. Ob sie und Kurt beim Bleaching Mengenrabatt bekamen?
»Sie ist ein Er und heißt Luffe«, antwortete Dan. Er hoffte, es klang etwas freundlicher, als es gemeint war. »Übrigens gut, dass ich dich treffe«, beeilte er sich hinzuzufügen. »Ich stehe hier seit einer Ewigkeit und frage mich, was in diesem Laden eigentlich verkauft wird.« Er nickte in Richtung der Vase und der toten Möwe.
»Wellness.«
»Wellness? Hat das
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