Die guten Frauen von Christianssund: Sommerdahls erster Fall (German Edition)
gedrungene Körper des Arztes war nicht für gymnastische Übungen in der freien Natur gebaut, und das Alter machte es nicht besser. Trotz der Kälte zeigten sich Schweißtropfen auf seinen roten, buschigen Augenbrauen, als er endlich vor ihnen stand. »Torp, Janssen, die Dame«, nickte er.
»Ich bin neu, Dr. Giersing. Kriminalassistentin Pia Waage.« Pia streckte die Hand aus. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen.«
Er drückte ihre Hand. »Sie war in Ihrem Alter, Waage.«
Alle vier schauten auf den unförmigen, durchweichten Haufen, der nur wenige Meter von ihnen entfernt lag.
»Was kannst du uns noch sagen, Giersing?« Flemming trat über die Absperrung, er wollte mehr von der Leiche sehen. »Ich weiß, dass ich deinen Bericht abwarten soll, aber kannst du mir nicht einfach vorab zwei, drei Fakten geben, an denen ich herumkauen kann, bevor du dich in dein warmes Auto setzt und nach Hause zu deiner Frau fährst?«
Svend Giersing lächelte, ob bei dem Gedanken an sein Auto oder seine Frau, dann wurde er wieder ernst. »Die Tote ist eine Schwarze, Mitte zwanzig. Lag bis vor Kurzem im Wasser. Vielleicht wurde sie bei diesem höllischen Sturm gestern angeschwemmt. Sie ist seit mindestens zwei Wochen tot, vielleicht sogar etwas länger. Schwer zu sagen. Die Wassertemperatur beträgt fünf, sechs Grad, also hatte die Leiche alle Chancen, nicht ganz so schnell zu verwesen.«
»Todesursache?«
»Ich will mich noch nicht festlegen, auf den ersten Blick sieht es so aus, als hätte man sie schlichtweg zu Tode geprügelt. Ihr wurden mehrere Zähne ausgeschlagen, die Nase und ein Wangenknochen sind gebrochen, an mindestens zwei Stellen hat sie einen Schädelbruch erlitten … Ich will gar nicht daran denken, was wir finden, wenn wir diese Decke aufgeschnitten haben.«
»Eine Decke?«
»Sie wurde in eine Wolldecke gewickelt und mit einer ganz gewöhnlichen weißen Flaggenleine verschnürt.« Giersing griff nach seiner Ledertasche. »Wir müssen sie in der Decke zur Obduktion transportieren, damit wir nicht mehr Spuren als unbedingt notwendig zerstören.«
»Das bedeutet, dass du nichts darüber sagen kannst, ob sie … Gibt es Anzeichen für eine Vergewaltigung?«
»Frag mich am späten Abend noch mal, dann weiß ich es.« Er stützte sich auf Janssens Schulter, als er über das Absperrband kletterte.
»Danke, Giersing.« Flemming drehte sich um, ging ein paar Meter weiter und sah sich die übel zugerichtete Gestalt in der durchweichten, von Algen überzogenen Decke genauer an. Ihre Augen waren im Grunde nicht mehr vorhanden, aber sie waren ganz sicher einmal dunkelbraun gewesen, dachte er, während sein Blick über die Unmenge von langen, schwarzen Zöpfen glitt, jeder einzelne nur wenige Millimeter dick. Sie bildeten einen schwarzen Strahlenkranz um den Rest ihres Gesichts. Eine Korona. Aus der Entfernung sah es aus wie fauliges Seegras, aus der Nähe jedoch erwies sich jeder einzelne Zopf als ein kleines Kunstwerk. Ob er je herausfinden würde, wer einen ganzen Tag darauf verwendet hatte, der lebendigen Sally diese vielen Zöpfe zu flechten?
Ein Gedanke schoss ihm bei dieser Assoziation durch den Kopf. »Du, Waage?« Er winkte die Beamtin heran. »Dieses Mädchen, mit dem wir uns heute treffen wollten, Sallys Freundin …«
»Sie heißt Jo.«
»Hast du ihr abgesagt?«
»Wir haben verabredet, dass ich anrufe, sobald wir wieder in der Stadt sind.«
»Wir brauchen sie, um die Leiche zu identifizieren.«
Pia Waage nickte. »Du glaubst, dass sie es ist, oder?«
»Sally? Ja.« Flemming ließ Janssen mit den Technikern reden und nahm Pia mit, als sie zu dem jungen Paar mit dem Hund gingen.
»Kriminalkommissar Flemming Torp«, stellte er sich vor. »Sie müssen Benedikte Olsen sein?«
Das Mädchen nickte. Er wusste, dass sie alt genug war für eine Lehre in einer Parfümerie, doch mit ihrer gestreiften Zipfelmütze und den pinkfarbenen Gummistiefeln sah sie trotzdem aus wie eine Vierzehnjährige. Benedikte lächelte freundlich und erwiderte seinen Handschlag mit festem Druck. Er wandte sich dem Mann zu, einem rothaarigen Jüngling mit hervorstechendem Adamsapfel und einer kräftigen Brille.
»Simon Johansen«, sagte der Rothaarige. »Ich bin Benediktes Freund. Sie hat mich angerufen.«
Flemming richtete seinen Blick wieder auf die junge Frau. »Erzählen Sie mir mit Ihren eigenen Worten, was passiert ist. Ich brauche dann lediglich noch Ihren Namen und die Adresse. Sie bekommen natürlich auch
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