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Die guten Schwestern

Die guten Schwestern

Titel: Die guten Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leif Davidsen
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stellten Kerzen ins Fenster. Eigentlich grotesk, aber sie wollten sich nicht von der Masse unterscheiden. Von all den dänischen Mitläufern, die ihre Freiheitskämpferbinde wie eine liebe Erinnerung in der Schublade aufbewahrten. Lehrer Hansen sagte, als heranwachsende dänische Generation könnten wir von dem Widerstand lernen, den die Dänen da geleistet hatten. Kämpfe für alles, was du lieb hast. Stirb, wenn es sein muß. Wie wir an dem Tag so schön bei der Morgenandacht gesungen hatten. Das seien Worte, die wir unser ganzes Leben mit uns tragen sollten. In der Klasse saßen zwei vierzehnjährige Jungen, die die Schule demnächst verlassen sollten. Sie saßen hinten und schliefen, wie üblich. Die hatten nur eins im Kopf: dem Dunst der Lehrerworte, der Mettwurst- und Eibrote im Klassenzimmer zu entkommen und eine Arbeit zu finden, damit sie endlich ein bißchen Geld verdienen konnten. Sie waren ohnehin längst von allen aufgegeben worden.
    Ich dachte nicht nach. Das tat ich sonst immer. Ich wollte es allen recht machen und das nette Mädchen sein, das nicht soviel Wesens von sich machte. Ich versuchte, wie alle anderen zu sein und nicht zu verraten, daß meine Familie ein Geheimnis mit sich herumtrug. Und daß ich wußte, daß sie es mit sich herumtrug, auch wenn meine Eltern nie richtig mit mir darüber gesprochen hatten, obwohl ich doch mittlerweile größer geworden war.
    Trotzdem reckte ich einfältig die Hand in die Luft und sagte:
    »Ich verstehe nur eines nicht, Herr Lehrer. Wenn es so war, warum hat die dänische Regierung dann so viele Jahre lang gesagt, daß die Freiheitskämpfer Verbrecher sind? Und warum wurden sie von der dänischen Polizei verhaftet?«
    Er kriegte einen hochroten Kopf, zog mich am Ohr, haute mir eine runter und zischte, ich solle jetzt bloß nicht naseweis sein und dumme Fragen stellen, von denen er schon wisse, woher sie kämen, ich solle bloß froh sein, in einem freien Land zu leben, wo selbst so eine wie ich mit anständigen dänischen Kindern in eine Schule gehen dürfe!
    Natürlich spürte ich die Tränen in mir aufsteigen, aber ich wollte nicht weinen. Meine Wange brannte von der Ohrfeige, der ersten in meiner gesamten Schulzeit. Fritz hatte ja schon so einige bekommen wie die anderen Jungen auch. Aber ich weinte nicht, und was an diesem Tag in der Schule passiert ist, habe ich meinen Eltern nie erzählt. Sie hatten genug Probleme.
    Die zeitlichen Abstände zwischen dem wohligen Läuten der Ladenglocke, das uns die Kunden ankündigte, wurden immer länger. Anfang des neuen Jahres wurde Frau Sørensen, die jeden Sonntag und manchmal auch nachmittags im Geschäft aushalf, gekündigt. Mutter konnte ohne weiteres gleichzeitig den Haushalt machen, die Kinder versorgen und die immer rarer werdende Kundschaft bedienen. Der einzige, der wohl nicht ganz begriff, daß sich unsere Welt verändert hatte, war der kleine Teddy, der verwöhnt wurde wie eh und je. Er war ja auch erst fünf und war daran gewöhnt, Mutter hinterherzutollen, auf seinem Stühlchen in der Ecke des Ladens zu sitzen, zu Vater hinüberzurennen und mit Nachbars Lene zu spielen. Und daran änderte sich auch nichts für ihn. Während eine Reihe meiner Freundinnen und von Fritzens Kameraden uns nicht mehr besuchen kamen und nicht mehr mit uns spielten, weil sie nicht durften, blieb Teddy wenigstens verschont. Aber vielleicht spürte er trotzdem, daß etwas nicht stimmte. Er wurde dünner und weinte noch leichter als sonst. Er wurde auch noch anhänglicher und klammerte sich an Mutters Schürze wie ein richtiges kleines Baby.
    Mittlerweile hatte ich verstanden, daß der Schuft der Geschichte der vornehme Gast aus Kopenhagen war, den meine Eltern, wenn sie dachten, ich höre nicht zu, schlicht als den Juden bezeichneten. Als wenn diese Bezeichnung ihrer Auffassung nach all das umfaßte, was gegen sie war und ihnen Steine in den Weg legte. Daß sie richtige Antisemiten waren, bezweifle ich nicht. Daß sie nicht nur Antizionisten waren, was ja eine gesunde politische Einstellung ist, sondern dezidiert die jüdische Rasse als eine Pest auf Erden ansahen – an diesen Gedanken kann ich mich dennoch nur schwer gewöhnen. Aber wie wir alle waren sie ein Produkt der Gesellschaft, in der sie aufgewachsen waren und in der sie gelebt hatten. Ein Produkt der Verhältnisse und der kapitalistischen Unordnung, die in der Welt herrschte (und herrscht). Sie wuchsen heran und empfanden die Welt als einen ungerechten, ausbeutenden Ort,

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