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Die guten Schwestern

Die guten Schwestern

Titel: Die guten Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leif Davidsen
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aber leider hatten sie nicht die wahre Einsicht oder die nötige Bildung, um die richtige Wahl zu treffen. Für sie wurde die Wahl von Mächten getroffen, die sie nicht durchschauten. Leider waren ihnen die Klassenverhältnisse, die ihr Leben und ihre Gedanken formten, nicht hinreichend bewußt. Deshalb nannten sie alles und jeden, der der Familie schadete, Jude, und das, obwohl der vornehme Gast aus Kopenhagen doch ebenso dänisch war wie wir.
    Bitte entschuldige, Schwester. Ich hatte Dir ja versprochen, die Politik beiseite zu lassen.
    Allmählich setzte ich mir die Geschichte zusammen und konnte mir ein Bild von dem Mittagessen im Rittersaal machen, das mir meine Mutter widerwillig und erst Jahre später bestätigte.
    Der Jude war an die reich gedeckte Tafel gekommen, wo die Gesichter der Herren von dem Schnaps und der Wärme glühten und viele schon die oberen Hosenknöpfe geöffnet hatten – nach dem fetten Hering, der guten Sülze, der Leberpastete, der Mettwurst, den warmen Rippchen, der hausgemachten Preßwurst, den Wildterrinen und den anderen reichhaltigen Sachen, die der Graf bei seinen berühmten Jagdessen auf den Tisch zu stellen pflegte. Mutter erzählte, Vater habe einen sehr ehrenvollen Platz angewiesen bekommen, neben dem Direktor der Maschinenfabrik nur zwei Plätze vom Grafen entfernt, der am Tischende saß. Die Herren freuten sich auf den Käse, noch ein kleines Schnäpschen, den Kaffee und die Zigarren, ehe sie wieder mit neuer Leidenschaft auf die Jagd gehen wollten. Auf die sich die Jagdhelfer übrigens nicht so sehr freuten. Die Nachmittagsjagd war stets eine gefährlichere Veranstaltung als die am Vormittag.
    Der Jude neigte leicht den Kopf, als der Graf ihn vorstellte und zu dem freien Platz an seiner rechten Seite führte. Selbstbewußt und gewandt nickte er den Gästen zu. Es war ein Teil seiner Wichtigkeit, daß er wegen der vielen bedeutenden Ausschüsse, in denen er saß, zu spät kam. Er betrachtete seine Arbeit als moralische Berufung. Dafür zu sorgen, daß die Landesverräter ihre gerechte Strafe erhielten, zumindest in den Zeitungen, und daß die Helden nicht vergessen wurden. Notgedrungen mußte er die Politiker übergehen, die wieder an der Macht saßen, und versuchte, es so darzustellen, als wäre die Zusammenarbeit mit den Deutschen in den ersten Jahren des Krieges ein Zufall gewesen oder jedenfalls eine pragmatische, sehr dänische Maßnahme, die dem Vaterland viele Leiden erspart hatte.
    Der Jude gab einigen Männern, die er kannte, die Hand und wollte sich gerade auf den für ihn reservierten Platz setzen, als er Vater bemerkte und Vater ihn bemerkte, und ihre Blicke waren wie Klingen, die sich in der rauchgeschwängerten Luft kreuzten. Vaters Gesicht wurde weiß. Das Gesicht des Juden wurde rot, und die Hand, die er aus Gewohnheit und Höflichkeit ausgestreckt hatte, um die Gäste, die in unmittelbarer Nähe des Grafen saßen, zu begrüßen, hielt mitten in der Luft inne, als wüßte sie nicht, was sie mit sich selbst anfangen solle. Der Jude trat einen Schritt vor und einen zurück und sagte mit lauter und klarer Stimme, die wie ein Messer durch den Raum schnitt, so daß sich alle Blicke auf ihn und Vater richteten:
    »Man hat nicht die Angewohnheit, mit Nazis und Judenmördern an einem Tisch zu sitzen. Man verspürt kein Verlangen, gemeinsam mit Männern zu essen, welche die Uniform des Feindes angelegt haben. Man geht gerne wieder. Wenn die Herren es vorziehen, ihr dänisches Brot mit der SS zu teilen.«
    Es gibt eine Redewendung im Dänischen. Ich weiß nicht, ob es sie auch im Deutschen gibt. Sie lautet: Es geht ein Engel durch den Raum. Sie bezeichnet einen Augenblick, in dem die Zeit stillsteht und alle wissen, daß etwas Bedeutendes geschehen ist, aber noch versteht man nicht, was es ist. Die Bemerkung des Juden war der Engel im Raum. Sie hing in der Luft und konnte nicht zurückgerufen werden. Die Herren fühlten sich nicht sehr wohl. Da hatte man es gerade so lauschig und gemütlich, so ohne Kinder und Frauenzimmer. Aber die Bemerkung konnte nicht einfach überhört werden. Es war eine ernstzunehmende Anklage, bei einigen am Tisch verbreitete sie Nervosität, eine Angst, daß sich die allgemeine Aufmerksamkeit auch auf sie und ihre Gesinnung richten könnte, damals, als man den Aufforderungen der Regierung loyal gefolgt war, bis man es für angezeigt hielt, derlei Überzeugungen in dem Maße zu vernachlässigen, in dem sich das Siegesglück an der Front

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