Die guten Schwestern
ausläuft, und sie wissen, daß es schwierig sein wird, sie noch einmal zu verlängern. Dieser Meinung ist mein Verteidiger auch. Er hat für sie nur Verachtung übrig. Sie haben nichts in der Hand. Sie ziehen die Maskerade durch, weil sie sich genötigt sehen, jetzt einen Sündenbock zu finden, wo die Rechten in der bürgerlichen Presse, und das heißt im heutigen Dänemark in allen Medien, einen Bußgang fordern.
Vor zehn Jahren, als die Mauer fiel, hatten sie im Grunde kein Interesse daran. Warum sollten sie auch? Ich schaue mich um in der dänischen Landschaft. Alle meine alten Freunde und Kampfgenossen, meine Genossen aus den Meetings, den Gruppen, den Kommunen, den Basisgruppen, den Parteischulen und Pionierlagern, sitzen nun solide an der Macht und in den Medien. Die Vergangenheit haben sie abgelegt. Nun muß man nach vorne schauen. Es war alles nur ein unschuldiger Jux. Ich bin nicht so. Es gab Irrtümer, aber daß der Kapitalismus böse ist, kann die moderne Schminke nicht verdecken. Schau über die Wohlfahrtsmauer Europas und der USA hinaus, und das Elend wird deine Augen schmerzen. Der objektive Gang der Geschichte läßt sich nicht leugnen. Zukünftige Forscher werden diese Zeit um die Jahrtausendwende später als leichteren unerklärlichen Rückschlag ansehen, bevor sich die Völker der Dritten Welt in Bewegung setzen, um sich zurückzuholen, was der Imperialismus ihnen gestohlen hat.
Vielleicht werde ich aus dieser unmenschlichen Einzelhaft also bald entlassen. Immerhin bin ich schon so weit, daß ich dem Erscheinen meiner Quälgeister und ihren ewigen Verhören fast freudig entgegensehe, weil sie eine willkommene Unterbrechung der Isolation bedeuten. So wird man, wenn man von seinen Mitmenschen isoliert ist. Man fängt an, seinen Henker zu lieben, weil man vor lauter Einsamkeit und mangelndem sozialen Kontakt wahnsinnig wird. Dann lieber ein Quälgeist wie dieser unbegabte Ochse von Toftlund, der nun wieder aufgetaucht ist und vor männlichen Hormonen kaum laufen kann, sondern herumstolziert, als wäre er das reinste Gottesgeschenk an das weibliche Geschlecht. Lieber dieser atavistische Macho als diese schneidende Einsamkeit, in der die Zeit stillsteht und die Tage sich gleichen wie ein Ei dem anderen. Ich spreche oft mit meinem Anwalt, aber das ist immer beruflich. Er ist auch bei den Verhören an meiner Seite, aber nicht immer. Manchmal habe ich nichts dagegen, mich ohne Anwalt verhören zu lassen.
Denn ab und zu ertappe ich mich dabei, die Verhöre intellektuell anregend zu finden. Es ist wie im Examen, und am Prüfungstisch habe ich mein Leben lang gesessen, entweder auf der einen oder auf der anderen Seite. Beim Verhör werden Behauptungen wie am grünen Tisch aufgestellt, und man versucht, die Argumente zu durchschauen, die Hypothesen auseinanderzupflücken, die Schwachpunkte zu finden und das mangelnde Wissen des Prüflings zu entlarven. Oder die Löcher im Rüstzeug des Prüfers, indem man die Substanz der Fragen analysiert.
Toftlund weiß ja auch nichts. Wie ein x-beliebiger Sportangler wirft er die Leine auf gut Glück aus. Glaubt, er könne Köder in alten, vergilbten Archiven aus Berlin finden. Ich kann nicht anders, ich muß über ihre Naivität lächeln. Sie glauben, die Stasi-Archive enthielten eine objektive Wahrheit. Als wären es historische Dokumente, die seriöse Forscher verwerten könnten. Aber die Staatssicherheit schrieb nicht die Wahrheit nieder. Sie schrieb einen Fortsetzungsroman, in dem Agenten und Spitzel, Spione und Führungsoffiziere, Schuldige und Unschuldige mit oder ohne eigenes Wissen Teil einer endlosen, bizarren Geschichte waren. Es ging nicht darum, über die Wahrheit zu berichten. Es ging darum, sich wichtig zu machen und seinen Vorgesetzten zu imponieren. Ein unschuldiges Mittagessen mit dem Austausch von Meinungen wurde im Bericht zu einem Enthüllungsgespräch über die strategischen Überlegungen des Gegners. Ein Zeitungsartikel über einen zukünftigen Verteidigungsvertrag wurde im Bericht zu einem klassifizierten Durchgang der NATO-Pläne in der Ostseeregion. Niemand hat jemals damit gerechnet, daß die Berichte gelesen werden sollten. Niemand hat damit gerechnet, daß die Übertreibungen, Manipulationen, Halbwahrheiten und regelrechten Lügen zu irgendeiner Zeit als Forschungsmaterial studiert werden würden. Ein Historiker würde das nie tun. Ein Historiker beschäftigt sich mit den übriggebliebenen Spuren, nicht mit den Auslegungen. Aber das
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