Die guten Schwestern
Einwohner leben. Und es gibt zu viele, sagen wir, lebende Leichen aus dem kalten Krieg, die im Keller des heutigen Dänemark herumschleichen, als daß irgend jemand ernsthaft an einer vollständigen Aufklärung interessiert wäre. In den Archiven ist die Sache erst mal gut aufgehoben. In der Zwischenzeit müssen sich die Journalisten damit beschäftigen, aber was sie schreiben, hat nicht besonders lange Bestand. Damit kann man also leben.«
Das war ja fast eine politische Rede, dachte Toftlund. Oder ein Rechtfertigungsversuch oder ein Schönreden der Tatsache, daß die Gesellschaft für eine wirkliche Abrechnung mit der näheren Vergangenheit noch nicht reif war. Die meisten wollten sie am liebsten vergessen.
»Und was ist mit Irmas Führungsoffizier, diesem mysteriösen Botschafter? Oder was auch immer er ist. Es kann ja wohl kein Zweifel daran bestehen, daß er existiert«, sagte Toftlund.
Sie schauten ihn verblüfft an. Er war dabei, weil er die Ermittlungen geleitet hatte, und sie schuldeten ihm Dank, daß der Bericht abgeschlossen werden konnte, aber daß er hier aus der Rolle fiel und das Wort ergriff, war eigentlich nicht in ihrem Sinne.
Der Justizminister seufzte und faltete seine Hände über der geschlossenen Akte.
»Toftlund, Sie haben gute Arbeit geleistet, und ich hoffe, Jette Vuldom belohnt Sie mit ein paar freien Tagen. Und ich hoffe, daß Ihnen auch die nötige psychologische Hilfe angeboten worden ist.«
»Die hat Toftlund dankend abgelehnt«, sagte Vuldom, als hätte der Minister einen ihrer Mitarbeiter beleidigt.
»Aha. Na, gut. Ihr militärischer Hintergrund ist mir ja bekannt. Aber das Angebot steht selbstverständlich. Das fehlte noch. Und herzlichen Glückwunsch zu Ihrem Kind. Es ist großartig, Kinder zu bekommen. Sie können sich auf das Leben mit einem Kind wirklich freuen. Das ist so lebensbejahend. Ja, was machen wir nun mit dem mysteriösen Botschafter. Gibt es ihn überhaupt? Oder ist er eine Fata Morgana, ein Spiegelbild von Mira Majolas Phantasie? Gibt es überhaupt jemanden, der in dieser Geschichte die Wahrheit gesagt hat? Falls er existiert, geht er bald in Rente. Oder vielleicht stirbt er? Die Natur oder Gott bestraft ihn für uns. Wir gewinnen den Krieg auf dem Balkan. Das ist sicher. Es ist eine Frage von Tagen. Jetzt geht es darum, den Frieden zu gewinnen.«
Er machte eine Pause und dachte nach, dann fuhr er fort:
»Im Laufe des nächsten Jahres wird es eine Volksabstimmung über die Einführung des Euros geben. Das wissen wir alle. Die muß gewonnen werden. Sie hat absolute Priorität. In ein paar Jahren werden wir den Ratsvorsitz in der EU innehaben. Das ist für Dänemark sehr wichtig. Es ist auf Jahre hinaus unsere einzige Chance, einen soliden dänischen Fingerabdruck auf die europäische Zukunft zu setzen. Wer weiß, vielleicht bekommen wir nie wieder den Vorsitz. Mit der Osterweiterung ist das dann gar nicht mehr so sicher.«
»Das heißt, er kommt davon, wenn ich Sie richtig verstehe.«
Der Justizminister sah Jette Vuldom auffordernd an. Sie war die loyale Gefolgsfrau, die sich nicht in Kriege stürzte, die nicht gewonnen werden konnten.
»Wir sind die Sache durchgegangen, Toftlund«, sagte sie. »Wenn wir ziemlich breit gestreut suchen und ein Profil anfertigen, dann wird es mindestens ein Dutzend Kandidaten geben, auf die das Profil zutrifft. Wenn wir auch die Politiker einbeziehen, die durch den Kontrollausschuß, den Europaausschuß oder den Außenpolitischen Ausschuß im Laufe der Jahre Einsicht in geheime Akten hatten, tja, dann ist die Liste deutlich länger.«
»Auch, wenn man sich auf die mit Krebs beschränkt?«
»Das ist eine Größe, die in unser Suchraster nicht aufgenommen wird. Es scheint uns nicht passend oder opportun zu sein.«
»Irgendwann steht vielleicht eine Todesanzeige in der Zeitung.«
Sie sah ihn an.
»Es gibt sicher nur wenige in diesem Land, die sie anders als eine Todesanzeige lesen werden, nicht, Toftlund?«
»Mit anderen Worten, diejenigen unserer baltischen Agenten, die 1987 hingerichtet wurden, sind die eigentlich Verratenen?« Toftlund konnte einen gewissen Zorn in seiner Stimme nicht unterdrücken, obwohl er den Vuldomschen Blick sehr wohl spürte.
Der Justizminister sagte:
»Das war eine andere Zeit. Es ist bedauerlich, aber als verantwortliche Politiker müssen wir dafür Sorge tragen, daß den Interessen der Nation höchste Priorität eingeräumt wird. So müssen wir denken. Dänemark steht in einer entscheidenden
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