Die guten Schwestern
sehen wir alle im Tode aus. Und der Tod wartet hinter der nächsten Ecke. Der Tod begleitet dich wie ein Schatten. Drehst du dich um und hältst nach ihm Ausschau, ist er schneller als dein eigener Schatten, doch täusche dich nicht. Er ist da. Also lebe das Leben, solange du es dein eigen nennst. Ihr wandelt nur kurz hier auf Erden im Vergleich zu der Zeit, die ihr mit mir verbringt.«
Das Skelett stieß ein heiseres Lachen aus, setzte sich auf den Hocker am Flügel und hielt den Ton, als Leonard Cohen sein »First we take Manhattan« aus den verborgenen Lautsprechern hervorpreßte. » They sentenced me to twenty years of boredom for trying to chance the system from within…«. Das Skelett sang und spielte synchron, ein verlegenes Lachen machte sich unter der großen Schar von Menschen breit, die nun im Halbkreis um die Marionettenschau herumstanden. »First we take Manhattan, then we take Berlin.« Als der Refrain kam, hob der Puppenspieler mit lockerer, rascher Bewegung die linke Hand, und drei Skelette sprangen, bekleidet mit winzigen Bikinis, aus dem Kasten hervor und sangen den Refrain mit grotesk geschminkten roten Mündern im Chor.
Spontan fingen die Leute an zu klatschen, und sie klatschten noch lauter, als die Nummer ihren Höhepunkt erreichte: Das männliche Skelett stehend auf die Tasten hämmernd, die Chormädchenskelette zappelnd und singend, als tanzten sie Cancan in den Folies Bergères. Dazu Cohens tiefe, verführerische Stimme und das Licht über der grauen Brücke. Trotzdem verzogen sich die meisten Touristen, ohne Geld in den Hut vor dem schwarzen Kasten gelegt zu haben. Toftlund legte ein paar tschechische Geldscheine hinein und sah zu, wie der Puppenspieler das Skelett auf seiner Bank in der Ecke zurechtsetzte, damit es für den nächsten Auftritt bereit war.
»Eine der besseren Straßenshows, nicht wahr, Herr Toftlund«, erklang eine hohe Stimme hinter ihm. Toftlund drehte sich um. Pavel Samson wurde seinem Nachnamen nicht gerecht. Er war ein kleiner, untersetzter Mann mittleren Alters in einer scheußlich gemusterten Jacke und einem grünlichen Hemd, unter dem sich ein über den Hosenbund hängender Bauch vorwölbte. Sein fast rundes Gesicht hatte Aknenarben, unter einer niedrigen Stirn saßen graue Äuglein. Seine noch verbliebenen Haare lagen wie von einem sorgfältigen Gärtner gesät in feinen, spärlichen Reihen über den bleichen Schädel verteilt. Die Gesichtsfarbe war rotbraun. Es handelte sich allerdings nicht um die Farbe, die ein Tscheche oder Slowake zu so früher Jahreszeit in einem der neuen Solarien erwerben konnte. Sondern um diejenige, die aus der guten Bekanntschaft mit tschechischem Bier, mit Wodka und dem Schnaps Becherovka mit seinem würzigen Geschmack nach Zimt resultiert.
»Mr. Samson?« sagte Toftlund und streckte die Hand aus. Samsons Händedruck war schlaff und etwas fettig, aber die Augen hatten einen wachen, intensiven Blick.
»Können wir deutsch sprechen?« fragte Samson.
»Von mir aus gern.«
»Dann lassen Sie uns ein wenig Spazierengehen«, sagte er in einem fast akzentfreien Deutsch.
Sie gingen zunächst, ohne ein Wort zu sagen. Toftlund ließ sich führen. Sie gingen über die Brücke Richtung Schloßseite. Drüben bog Samson nach rechts, und sie flanierten am Ufer entlang. Ein Lastkahn glitt vorüber, und das Touristenboot von vorhin wendete wieder in der Strömung.
»Ich habe gesehen, daß Sie Ihre Maßnahmen getroffen haben«, sagte Samson. Seine Stimme war dünn und weich, fast wie die einer Frau. »Sie waren glänzend, und Sie wurden nicht beschattet.«
»Wer sollte mich eigentlich beschatten?« sagte Toftlund.
Samson lachte. Ein Fistellachen.
»Alle und jeder. Prag, Preßburg, Budapest. Das sind reine Spionagenester. Wie in einem Roman von Eric Ambler. Im heutigen Mitteleuropa herrscht viel Dreißiger-Jahre-Stimmung. Mit dem Krieg fallen sie jetzt alle übereinander her: die Spione, die Verräter, die Verdammten, die Geschäftemacher, die Ängstlichen, die in der ersten Runde Zukurzgekommenen. Alle sind sie hier: die Briten, Deutschen, Amis, Russen, unsere eigenen, die Jugos, von den Kroaten ganz zu schweigen. Wir sind Europas Brennpunkt, ein Brennpunkt, der vor sich hin schwelt. Hier wird mit Loyalitäten und Informationen gehandelt. Alle wollen Geschäfte machen, und so mancher will aussteigen, bevor es zu spät ist. Zehn Jahre nach dem Fall der Mauer haben wir immer noch Leute, die mit einem Bein im alten Lager stehen und mit dem andern
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