Die Haarteppichknüpfer - Roman
dich?«
»Keiner«, entgegnete Lamita wie aus der Pistole geschossen.
»Überleg noch einmal genau.«
Lamita ließ flüchtig alle einigermaßen passablen jungen Männer Revue passieren, mit denen sie zu tun hatte. Alle langweilig. »Da gibt es nicht viel zu überlegen. Da ist wirklich keiner.«
»Das kaufe ich dir nicht ab. Nach meiner Erfahrung damit, was unsere Hormone in uns anrichten«, Lamita musste zugeben, dass die diesbezügliche Erfahrung ihrer Schwester enorm war; auch deshalb hatte sie sie angerufen, »ist das unmöglich. Ich behaupte, es gibt einen. Ein Mann ist da, der dich anzieht und dessen Gegenwart es zwischen deinen Beinen feucht werden lässt. Du gestehst es dir nur nicht zu. Vielleicht ist er verheiratet, oder er ist hässlich, oder es gibt sonst irgendeinen Grund – jedenfalls hast du ihn aus deinem Bewusstsein ausgeblendet. Aber er ist da. Und alle anderen interessieren dich folglich nicht.« Pause. »Na, löst das etwas aus?«
Lamita strich sich gedankenverloren ein paar Haare aus der Stirn. Ja, da war etwas. Sie spürte eine Stelle in ihren Gedanken, an der so etwas wie ein Widerstand war, ein blinder Fleck, eine selbstgeschaffene Barriere. Wenn sie für einen Moment alle ihre Tabus beiseite ließ, dann kam … Nein. Das war indiskutabel. Was würde man über sie sagen, wenn sie …
Was würden die anderen sagen. Da hatte sie es. Erstaunliche Gedanken für eine, die sich für eine Rebellin hielt, nicht wahr? Sie wurde fast zornig auf sich selbst und war doch stolz, sich auf die Schliche gekommen zu sein.
»Es gibt da tatsächlich einen Mann …«, begann sie zögernd.
»Na also«, sagte Sarna hochbefriedigt.
»Aber es geht trotzdem nicht. Nicht mit ihm.«
»Warum nicht?«, bohrte ihre Schwester genüsslich weiter.
»Er ist viel älter als ich.«
»Muss in der Familie liegen. Unser Vater war schließlich auch nicht mehr taufrisch, als er unsere Mutter kennen lernte.«
»Und er ist ein unverbesserlicher Anhänger des Kaisers.«
»Eine Garantie für lebhafte Gespräche«, kommentierte Sarna belustigt. »Sonst noch etwas?«
Lamita dachte nach. »Nein«, seufzte sie schließlich. »Aber jetzt weiß ich erst recht nicht, was ich tun soll.«
»Nein?«, amüsierte sich ihre Schwester. »Ich wette, du weißt es ganz genau.«
Sie kannte diesen inneren Zustand: eine bedingungslose Entschlossenheit, zu handeln und mutig zu sein und sich nicht von Hindernissen beeindrucken zu lassen. Sie wusste auch, dass es galt, diesen Zustand zu nutzen, solange er anhielt.
An Schlaf war nicht zu denken. Sie zog sich rasch um und rief dann im kaiserlichen Archiv an. Der Archivar meldete sich nach kurzer Zeit.
»Habt Ihr etwas dagegen einzuwenden, wenn ich heute Abend noch ins Archiv komme?«, fragte sie.
Er hob nur eine Augenbraue. »Ihr seid die Beauftragte des Rates. Ihr könnt kommen und gehen, wann immer Ihr wollt.«
»Ja«, sagte Lamita nervös. »Ich wollte nur Bescheid geben. Ich komme demnächst.«
»Ja«, sagte Emparak, der Archivar, und schaltete ab.
Das Tor des Archivs stand offen, als sie dort ankam. Lamita stand eine Weile ratlos in der hell erleuchteten Vorhalle und sah sich um. Alles lag leer und verlassen, niemand war zu sehen. Auch im großen Kuppelbau brannte Licht. Lamita ging in den zentralen Lesesaal und legte ihre Arbeitsmappe auf dem ovalen Tisch ab, an dem früher der Kaiser selbst gesessen hatte. Das Echo aller Geräusche hallte überlaut wider und verstärkte das Gefühl, allein zu sein.
Sie ging in einen der radialen Gänge und holte aus einem Regal einen alten Folianten. Als sie damit zurück an den Tisch kam, entdeckte sie den Archivar. Wie immer stand er im Halbschatten der Säulen am Eingang zum Lesesaal, abwartend und reglos.
Lamita legte den dicken Band langsam auf dem Tisch ab. »Ich hoffe, ich störe Euch nicht«, sagte sie in die Stille.
»Nein«, sagte Emparak.
Sie zögerte. »Wo wohnt Ihr eigentlich?«
Falls ihn die Frage wunderte, ließ er es sich nicht anmerken. »Ich habe eine kleine Wohnung im ersten Untergeschoss.«
Es klang abweisend. Sie wusste, dass er den Kaiser noch gekannt und auch mit ihm zusammengearbeitet hatte, und bei den Gelegenheiten, bei denen sie bisher mit dem Archivar zu tun gehabt hatte, war ihr nicht entgangen, dass er ihr und generell jedermann gegenüber feindselig eingestellt war, der mit der Rebellion zu tun hatte. Sie betrachtete ihn. Er war ein untersetzter Mann, kaum größer als sie selbst, mit silbergrauem, vollem Haar,
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