Die Haarteppichknüpfer - Roman
Sinn seines Lebens – einen Teppich für den Palast den Kaisers … Er schlang die Knoten hastig, nachlässig, fahrig. Er würde sie nachher alle wieder auftrennen müssen, nachher, wenn er wieder seine Ruhe hatte.
»Ostvan, bitte! Ich kann es nicht mit ansehen.«
Seine Kiefer schmerzten vor Wut. »Du wirst mich nicht aufhalten. Ich bin schuldig an meinem Vater. Und ich werde diese Schuld abtragen!«
Er arbeitete weiter, fliehend, fiebrig, als gelte es, den ganzen riesigen Teppich noch heute fertig zu stellen. Knoten um Knoten schlang er, immer die gleichen Handbewegungen, schnell, schnell, immer die gleichen Knoten in der seit Jahrtausenden überlieferten Weise, fein und winzig, an dem knarrenden Knüpfrahmen, die bebenden Arme auf das speckige, abgeschabte Brustbrett gestützt.
Sie ging nicht. Sie blieb einfach da stehen, wo sie stand. Er konnte ihren Blick in seinem Rücken spüren wie einen Schmerz.
Seine Hände begannen zu zittern, sodass er seine Arbeit unterbrechen musste. Er konnte so nicht arbeiten. Nicht, solange sie da stand. Warum ging sie nicht endlich? Er drehte sich nicht um, umkrampfte nur die Knotennadel und wartete. Sein Atem ging schwer.
»Ich bin schuldig an meinem Vater, und ich werde diese Schuld abtragen!«, beharrte er.
Sie schwieg.
»Und …«, fügte er hinzu und brach ab. Fing noch einmal an: »Und …« Nicht weiter. Da war eine Grenze, die nicht überschritten werden durfte. Er bekam ein neues Haar zu greifen, versuchte die Öse an der Spitze der Knotennadel damit zu treffen, aber seine Hände zitterten zu stark.
Sie ging nicht weg. Stand da, schwieg, wartete einfach.
»Ich bin schuldig an meinem Vater. Und … und ich bin schuldig an meinem Bruder!« Es brach aus ihm heraus, mit einer Stimme wie berstendes Glas.
Und es passierte, was nie hätte passieren dürfen: Er rutschte ab mit der Knotennadel, sie fuhr in den Teppich und zerriss das hauchfeine Grundgewebe; ein Riss so breit wie eine Hand, die Arbeit von Jahren.
Da, endlich, kamen die Tränen.
Andreas Eschbach , geboren in Ulm, ist verheiratet, hat einen Sohn und schreibt seit seinem 12. Lebensjahr. Er studierte in Stuttgart Luft- und Raumfahrttechnik und arbeitete zunächst als Softwareentwickler. Einige Jahre war er geschäftsführender Gesellschafter einer EDV-Beratungsfirma. Als Stipendiat der Arno-Schmidt-Stiftung »für schriftstellerisch hoch begabten Nachwuchs« schrieb er seinen ersten Roman »Die Haarteppichknüpfer«, der 1995 erschien und für den er 1996 den »Literaturpreis des Science-Fiction-Clubs Deutschland« erhielt. Bekannt wurde er vor allem durch den Thriller »Das Jesus-Video« (1998), das drei literarische Preise gewann und zum Taschenbuchbestseller wurde. Andreas Eschbach lebt mit seiner Familie als freier Schriftsteller in der Bretagne.
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