Die Habenichtse: Roman (German Edition)
Ort.
Der Wind wurde um weniges stärker, ein Junge setzte vorsichtig sein Segelboot ins Wasser, die weißen Segel neigten sich bedenklich, aber der Kiel hielt das Boot, und als seine Mutter lachend zu ihm rannte, war es zu spät, das Boot war schon auf Reise gegangen, es richtete sich auf und gewann an Fahrt. Der Junge aber begriff noch nicht, daß es ihm außer Reichweite geriet, stolz lachte er seine Mutter an, sie standen Hand in Hand am Wasser, und es war möglich, daß das Schiffchen das gegenüberliegende Ufer erreichen, sich dort an Land holen lassen würde. Jakob konnte die Augen nicht von der Mutter abwenden, sie erinnerte ihn an Miriam, hoch aufgerichtet stand sie da, und wenn es auch mit Tränen enden mochte, dachte Jakob, so würde sie ihren Sohn doch trösten können. Glücklich fühlte er, daß Bentham die Szene ebenso gut gefiel wie ihm, und einen Moment spürte er Benthams Hand auf seinem Arm.
–Die Landschaft dort ist im Frühling wunderbar, so anmutig und freundlich, daß ich mir ausgemalt habe, wie es wäre, jedes Frühjahr an der Bergstraße zu verbringen, man würde wohl jedes Jahr von neuem staunen, wie ein Mensch nur staunen kann. Das ist überhaupt das beste, Staunen über jede Art von Schönheit, auch wenn sie flüchtig, auch wenn sie käuflich ist. Ich habe es ernsthaft in Erwägung gezogen. Es gab ein kleines Haus, eine kleine Villa, in der ich als Mieter willkommen gewesen wäre.
–Und Ihr Lebensgefährte?
–Er war ganz einverstanden, unbefangener als ich, versteht sich. Dann ist er allerdings verunglückt. Ich hatte nie damit gerechnet, von uns beiden übrigzubleiben.
Bentham schwieg eine Weile. –Übrigbleiben scheint meine besondere Spezialität zu sein. Wenn man jemanden liebt, dann glaubt man mit all der Zutraulichkeit dieser Liebe an einen gemeinsamen Tod.
–Außer meiner Mutter habe ich nie jemanden verloren, sagte Jakob.
–Das reicht auch, denke ich, in Ihrem Alter? Es ist übrigens nicht so sehr der Schmerz, der zerstörerisch ist. Eher die Blindheit, die er mit sich bringt, der Wunsch, die Augen nicht zu öffnen, nichts zu sehen, was einen vom Bild des Geliebten entfernen könnte, und es dauert lange, bis man begreift, was zur Vergangenheit dazugehört, daß sie sich weder berühren noch verändern läßt, egal wie gewaltsam man sich in ihre Nähe drängt. Daß man alles verliert, wenn man nicht hinnimmt, was vergangen ist, aus dieser unbarmherzigen Distanz, die einen vor allem deshalb quält, weil sie die eigene Distanz zu den Dingen ist.
–Und zu denen, die lebendig sind?
Bentham lachte. –Sie meinen, das sei doch wichtiger? Da haben Sie recht. Aber jemand wie ich ist mit einer abwesenden Geographie aufgewachsen, mit einem Zuhause, das als Foto, als Adresse, als Name existierte, aber unerreichbar blieb. Ich kannte die Biegung des Treppengeländers in unserem Frankfurter Haus auswendig, nicht aus der Erinnerung, sondern von den Fotos, ebenso die Kommode, die im ersten Stock stand, darüber ein Spiegel. Für mich war das immer das Bild der Wohlproportioniertheit, einer sinnvollen Anordnung. In England gab es für mich nichts dergleichen. Man muß erst lernen, daß man zurückkommt und etwas Neues findet, das ist der Sinn der Zwiesprache mit den Toten, mit dem, was man verloren hat.
Jakob suchte die junge Frau und das Kind mit den Augen. Sie standen am anderen Ufer, der Junge hatte einen Stock gefunden und beugte sich, während seine Mutter ihn fest an der Hand hielt, so weit als möglich nach vorne.
–Ich kann mir nicht vorstellen, hier für immer zu leben, sagte Jakob unruhig. Dabei würde ich es gerne. Ich bin gerne hier.
–Warum sollten Sie auch hierbleiben?
–Es kommt mir so absurd vor, sich davon bestimmen zu lassen, wo man geboren ist.
Bentham lachte. –Aber man sucht es sich ja nur selten aus. Immerhin sucht man sich überhaupt manches aus. Er stand auf. –Hören Sie, jetzt gehen wir noch ein Stück, ich werde Sie mit dem Fazit meiner endlosen Rede wenigstens verschonen. Gibt es wahrscheinlich auch nicht, das Fazit, meine ich. Außerdem, offen gestanden, liebe ich diesen Park zwar, und schauen Sie nur, da stehen die beiden noch immer und warten auf die Ankunft ihres Schiffleins. Aber ein Whisky, das wäre jetzt gut, es ist so eine nette Gewohnheit.
Sie gingen Richtung Südosten, überquerten die Devonshire Street, Bentham einen halben Schritt voran, und Jakob schwieg, bis sie das Pub erreichten, wo ein alter Kellner Bentham mit einem knappen
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