Die Habenichtse: Roman (German Edition)
nicht sehen konnte. Abgeschnitten oberhalb des Munds, die rote Frotteewäsche, der Bauch wölbte sich ein bißchen vor, sie hatte die Schenkel leicht gespreizt, und es erregte sie zu sehen, wie obszön die Fotos waren. –Was ist das? fragte Andras, Kinderporno? Sie mußte lachen, als sie sein Gesicht sah, boshaft, bekümmert. Wann soll ich dich morgen abholen? fragte er.
Zu Hause war beinahe nichts mehr zu tun. Im Flur standen drei große Koffer, der Kühlschrank war leer, auf dem weißgekachelten Boden lagen Krümel, nach ihrer Abreise würde die Putzfrau alles saubermachen, den Schlüssel ins Büro schicken, ein adressierter, gefütterter und frankierter Umschlag lag schon bereit. Das Telefon klingelte, fast kam es Isabelle unpassend vor zu antworten, es war Ginka, das Telefon klingelte wieder, es war Alexa, und dann rief Hans an, um noch einmal zu fragen, wie oft er nach der Post schauen solle. Sie trank eine halbe Flasche Rotwein und wünschte, Jakob käme, sie abzuholen.
Dann war es schon Morgen, Andras’ Klingeln weckte sie, er stieg die Treppen hinauf, mit Frühstückstüten in der Hand, mürrisch, abwartend. Isabelle verschwand im Bad. Er setzte ein Kännchen Espresso auf, zog aus den Küchenschränken Tassen, Teller. Der Kühlschrank war leer bis auf ein Glas mit Kapern. Abschiede blieben hier immer beiläufig. Er dachte an die Küsse seiner Budapester Verwandten, an das anschwellende Getöse bei jedem Weggehen, das sich als Abschied auslegen ließ, die unzähligen Personen, die eine Prozession bildeten auf dem Weg zum Flughafen oder zum Bahnhof und sogar zur Haustür, falls er das Haus nur verließ, um mit jemandem zu Abend zu essen. –Bei euch, so seine Mutter, stehlen sich selbst die Toten unauffällig davon. Ihr traten Tränen in die Augen, wenn sie an Onkel Janos und Tante Sofi dachte, an deren Sterbebett und Beerdigung, von denen es keine Fotos gab, Briefe gab es nicht, keine Liste derer, die Blumen geschickt hatten, nicht die Spur eines letzten Winkens in der Luft. Er wollte nicht, daß Isabelle ging. Er wollte, daß sie begriff, was Abschied bedeutete, Abschied von ihm, der vielleicht doch nach Budapest zurückkehren würde. Als sie aus dem Bad kam, trafen sich ihre Blicke. Etwas war anders. Nur im ersten Moment fürchtete er, sie verärgert zu haben, dann zuckte eine absurde Hoffnung in ihm auf, ein ängstlicher, glücklicher Herzstillstand. Aber nein.
Sie würde nicht bleiben. Und in ihre Augen trat etwas Unfreundliches, Angespanntes.
Als Isabelle die Sicherheitskontrollen passiert hatte, trat Andras in den kalten Februarwind und blieb dort stehen, bis ein Busfahrer, ein älterer Mann mit einem Schnauzbart, fragte, ob er helfen könne. Andras nickte lächelnd, dann verneinte er höflich und stieg in den nächsten Bus.
Im Büro fand er eine Notiz von Sonja, daß Magda angerufen habe. Er ging zum Abendessen zu ihr und blieb. Als er, es war sechs Uhr morgens, leise aufstand, um sie nicht zu wecken, und durch die Dunkelheit lief, wußte er, was er in Isabelles Gesicht gesehen hatte, und er duckte sich gegen den Wind und Regen, duckte sich, weil er die Entschlossenheit in ihren Augen, eine unerbittliche Ziellosigkeit, nicht ertrug. Sie war schon in London.
19
Das Flugzeug setzte sanft auf, die Asphaltbahn schoß unter den Rädern dahin, und dann, als alles vorbei schien, geriet plötzlich die Maschine ins Schlingern, ein scharfer Ruck nach rechts ließ Passagiere überrascht aufstöhnen, Reisende, die in Gedanken schon Koffer vom Gepäckband geholt hatten, dem Ausgang zugeeilt waren, ihren Angehörigen und Freunden entgegen, nicht mehr Passagiere, sondern Angekommene, die das Flughafengebäude hinter sich ließen und sofort vergaßen, ihre vagen Ängste vergaßen und daß die Sicherheitslage prekär war. Terroristen, flüsterte irgend jemand, und ein zweiter, ein dritter griff es auf, ein Passagier schrie, kurz und schmerzlich, die Stewardessen in ihren Gurten bewegten sich hin und her, schaukelten, gaben unverständliche Zeichen. Noch immer schlingerte das Flugzeug, brach nach rechts aus, brace, brace! , wies eine Lautsprecherstimme aufgeregt an, doch Isabelle reckte sich zum Bullauge, sah ein Feuerwehrauto, ein zweites, sie war nicht sicher, ob das Dröhnen der Motoren lauter geworden war. Wieder aus dem Lautsprecher ein Ruf, unverständlich diesmal, gefolgt von einem Knattern, eine Stewardeß sprang auf, griff nach dem Mikrophon, aber obwohl ihr Mund, nur eine Sitzreihe vor Isabelle, sich
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