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Die Habenichtse: Roman (German Edition)

Die Habenichtse: Roman (German Edition)

Titel: Die Habenichtse: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hacker
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und er lief schnell weiter, die Tasche fest umklammert. Ein paar Meter weiter mußte er stehenbleiben, weil eine Menschenmenge den Bürgersteig versperrte, einige riefen, johlten, darüber klang die Stimme eines Mannes, eines Predigers, so schien es, aber Gelächter und Zwischenrufe waren zu laut, als daß Jakob ihn hätte verstehen können. Dann wurde es aber leiser, und alle hörten zu. Jakob schaute zu der jungen Frau hinüber, die neben ihm stand, betrachtete das rundliche, dunkle Gesicht. Über der Nase berührten sich die Augenbrauen, zwei zarte Linien, die einander begegneten. Er beugte sich zurück, hoffte, sie weiter unbemerkt betrachten zu können, als sie den Kopf umwandte und ihn aus mandelförmigen Augen ansah, die fast schwarze Iris von makellosem Weiß umgeben. Nach einem Moment löste sich etwas in ihrem Blick, wich das Mißtrauen, und ärgerlich spürte Jakob, daß er rot wurde, aber er konnte sich nicht losreißen; nur eine winzige Veränderung, dachte er, zwischen Mißtrauen und Wärme, ablesbar an der Stellung der Augen, der Linie der Augenbrauen, eine Nuance, die weniger einer Sprache als einem Code ähnelte, und wieder fühlte er sich ausgeschlossen. Gleich würde sie sich abwenden. Wortfetzen von dem, was der Prediger rief – ein kräftiger Mann mit dickem, zerzaustem Haar und einem kühnen Gesicht –, drangen an sein Ohr. Die Frau wandte sich ab. Was war es gewesen, das er zuletzt in ihrem Blick las? Enttäuschte Neugierde. Mitleid.
    –Auf Jesus wartet ihr, auf Mohammed? Auf das Home Office? Der Prediger hatte sich halb umgedreht und stand Jakob jetzt gegenüber. –Die Verzweiflung der Hingeschlachteten wird euch erreichen, die Rache des Kriegs und der Angst. Ihr werdet Staub fressen, nicht den Staub der Schlange, sondern den schwarzen Staub der Untergrundschächte, auf dem Geröll, den Gleisen werdet ihr euch entlangschleppen und beten, noch einmal das Tageslicht sehen zu dürfen. Euer Schweiß wird sich schwarz färben, und die Todesangst euer Gesicht verzerren, zu der Maske, die es jetzt schon ist. Man kann wer weiß wie viele Scheinwerfer auf euch richten, das Licht hilft nichts, ihr hockt in eurer Dunkelheit, und nachts befällt euch die Ahnung, nicht wahr? Wenn die Angst hochsteigt, als wärt ihr Verbrecher auf den Sandbänken der Themse, angekettet, während die Flut kommt. Auf was wartet ihr, um euch zu retten? Welche Grausamkeit hat sich noch nicht in eure Augen gebrannt? Welchen Angstschrei habt ihr noch nicht gehört?
    Er machte eine Pause und wandte das Gesicht zum Himmel, schaute dann wieder in die Menge, die unruhig zu werden begann – worüber hatten sie gelacht? fragte sich Jakob –, einige gingen, andere gesellten sich dazu, und Jakob wurde nach vorne gedrängt, stemmte die Beine in den Boden, um nicht die Frau anzurempeln, deren schlanken Hals er vor sich sah, so nah, daß er einzelne Härchen unterscheiden konnte, Flaum, der heller war als ihr Haar, den Wirbel, der hervortrat wie ein Knopf, delikat, zerbrechlich. Er steckte seine Hände in die Hosentaschen, kämpfte gegen den Wunsch, den Nacken zu streicheln, den Kopf sachte zu sich herzudrehen.
    –Ihr harrt aus. Geduldig, blind, und schließlich erinnert ihr euch an nichts mehr. Die Straße, seht ihr? Seht ihr die Bettler? Seht ihr die Toten? Erinnert ihr euch denn an nichts? Wißt ihr nichts? Ihr habt recht, Jesus zu vergessen, für euch ist er nicht gestorben, am Kreuz ist er gestorben, fragt die Toten, für wen. Fragt euch lieber, für wen ihr denn lebt, für wen ihr atmet, für wen es Sommer wird, für wen alles blüht und die Spannung sich ins Unerträgliche steigert. Seht ihr die Schönheit, selbst hier, wie lange es dämmert, wie die Dunkelheit zögernd herbeischleicht, um euch zu umfangen, während die Sirenen schrillen, während einer sich in seinem Dreck wälzt, während ein paar Meter weiter, ein paar Stunden später einer umkommt, erschossen, erstochen, weil ihr die Augen verschließt, weil ihr nichts sehen wollt, weil die Totenfahrt längst schon bezahlt ist durch euren Raub. Diebe sind wir, wie wir hier leben. Jeder Tag auf dem Rücken derer, die gebückt nach einem Unterstand, nach einem Aufschub suchen. Steht noch dahin, sagt ihr, ob uns das Unglück trifft. Aber es wird treffen, es wird uns treffen und unsere Herzlosigkeit. Wir haben kein Recht zu überleben. Wir sind nackt. Noch leben wir, das ist alles.
    –Was soll das? flüsterte Jakob, beugte sich ein Stück nach vorne, damit sein Atem die

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