Die hässlichste Tanne der Welt (German Edition)
«Pizza schmeckt doch voll lägga.»
«Sie hat sich halt so auf Kartoffelsalat mit Würstel gefreut», schwindle ich eine Erklärung zusammen.
Jan begibt sich zu seiner Mutter und schlingt die Arme um ihren Hals und busselt sie ab.
Die liebevollen Küsschen wirken wie ein Brandbeschleuniger und bringen Katjas Wehmutsfässchen endgültig zum Überlaufen. Hemmungslos schluchzt sie auf. Doch dann trocknet sie ihre Tränen, schnappt sich die noch halbvolle Eierlikörflasche und erhebt sich. «Na storov’e. Ihr könnt mich alle mal zu Ostern besuchen», sagt sie trotzig und verlässt das Zimmer.
Eine kurze Schrecksekunde starren wir uns entgeistert an.
Bernd erwacht als Erster aus seiner Verblüffung. «Los, alle anziehen, wir fahren zu Mac-Doof.»
«Und die Mama?», fragt Jan besorgt.
«Mama hat keinen Appetit auf Burger und möchte lieber Russisch lernen», antworte ich und helfe meinen Enkeln in die Klamotten.
22. Dezember, Sonntag, 4. Advent,
noch 2 Tage bis Weihnachten
Weihnachtsgans mit Knödel und Blaukraut sind wahrhaftig kein Diätessen, aber Burger, Pommes und Cola noch viel weniger. Das Zeug liegt mir heute noch im Magen. Könnte aber auch daran liegen, dass ich einfach zu viel gefuttert habe. Das Drama an Katjas Probeweihnachten ist mir nicht gut bekommen. Mein Blutzuckerspiegel war dermaßen im Keller, dass ich einen doppelten Burger und eine XXL -Portion Pommes wie eine kleine Zwischenmahlzeit empfand. Zum Nachtisch gab’s dann noch eine riesige Portion Eis. Heute muss ich dafür büßen. Dem Völlegefühl nach habe ich Katjas falsche Tanne mit Ketchup verspeist. Schätze, dass ich bis Neujahr satt bin.
Zum Glück ist heute Sonntag, und ich kann mich erholen. Zuerst koche ich eine große Kanne Kamillentee. Auf die weichgekochten Eier habe ich keinen Appetit, und als der Naturjoghurt mit Honig auch nicht schmeckt, verordne ich mir einen Nulldiät- und Wellnesstag. Den Honig-Joghurt streiche ich auf Gesicht und Dekolleté und lege mich in ein heißes Pflegebad. Wer weiß, ob das nicht die letzte Möglichkeit ist, mich vor dem Alle-Jahre-wieder-Spektakel zu entspannen. Später werde ich kurz an Hermanns Grab vorbeischauen und anschließend einen langen Spaziergang unternehmen.
Noch ehe der Badeschaum zerfallen ist, fällt mir ein, dass heute die Mützen für die Kinder fertig sind. Passt perfekt. Spaziergänge mit Ziel mag ich ohnehin lieber.
Für die Kleiderwahl benötige ich keine zehn Minuten. Meine Mode-Kollektion ist zwar nicht sonderlich groß, aber es findet sich für jeden Anlass etwas Passendes. Und ein Vorteil des Alters ist, dass man sich auch ohne viel Aufhebens um sein Äußeres aus dem Haus wagt. Mal abgesehen von Heiligabend. Katja besteht auf festliche Kleidung und freut sich, wenn ich in «Samt und Seide» antanze. Aber dafür muss ich mir nichts Neues anschaffen. Etwas anderes wäre es, wenn ich tatsächlich mit Friedrich …
Vergiss Paris
, ermahne ich mich an dieser Stelle und lache leise vor mich hin über meine absurde Träumerei. Andererseits: Träumen schadet nie.
Über Nacht hat es geschneit, ein leichter Wind weht, und der Friedhof sieht aus, als habe jemand Puderzucker gestreut. Als ich auf Hermanns Grab zulaufe, fällt mir schon von weitem auf, dass kein Licht brennt. Von wegen Solarleuchten brennen
ewig
. Ich war von vornherein skeptisch gewesen, ob das neumodische Zeug tatsächlich funktionieren würde. Ich weiß zwar nicht, wann sie erloschen ist, aber vermutlich hat sie keine Woche geleuchtet. Doch dann muss ich feststellen, dass auf dem Grab überhaupt keine Lampe steht.
Schöne Bescherung
, fluche ich und überlege, ob ich es vielleicht gar nicht aufgestellt habe. Sind das die ersten Anzeichen von Alzheimer? Jenseits der fünfzig muss man mit allem rechnen. Neulich habe ich vergessen, nach dem Kochen die Herdplatte auszuschalten und es zum Glück noch rechtzeitig gemerkt, als ich etwas später Teewasser aufsetzen wollte. Auch Frau Janatschecks Mutter ist dieser heimtückischen Krankheit erlegen. Doch mit etwas Konzentration erinnere ich mich genau, das
ewige
Licht neben das Gesteck gestellt zu haben. Und das liegt ja noch da. Als ich mich ratlos umblicke, kann ich auch auf den Nachbargräbern keine Lichter entdecken.
«Da scheinen Diebe am Werk gewesen zu sein», flüstere ich seltsam erleichtert, und dann erinnere ich mich an einen Zeitungsartikel, in dem unlängst von Grabräubern berichtet wurde, die vor allem zur Weihnachtszeit umgehen würden.
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