Die Häupter meiner Lieben
Schrei, ein Möbelknarren und Poltern. Ich trug Turnschuhe und war in wenigen Sätzen im oberen Stock. Coras Zimmertür mit dem Jagdverbotsschild stand offen. Carlo hockte schnaufend auf ihrem Bauch, hielt ihr mit der einen Hand den Mund zu und mit der anderen die Arme fest. Sekundenlang ließ er los, um ihre Bluse aufzureißen, Cora schrie gellend auf. Warum habe ich ihn nicht an den Haaren gerissen und meiner Freundin im Nahkampf beigestanden? Wahrscheinlich hätte mein bloßes Erscheinen bewirkt, daß Carlo von ihr abgelassen hätte.
Ohne zu überlegen, war ich ins persischrosa Schlafzimmer gerannt und hatte die Gaspistole aus der Nachttischschublade gerissen. Mit vorgehaltener Waffe stand ich Sekunden später vor Coras Bett und sagte: »Hände hoch!«
Mein Bruder wandte den Kopf leicht zu mir, gehorchte jedoch keineswegs, sondern brüllte: »Hau ab!«
»Gib's ihm, Maja!« kommandierte Cora zwischen Carlos Fingern mit vor Schrecken versagender Stimme.
Ich setzte die Gaspistole an Carlos Schläfe und sagte die magischen Worte: »Ich zähle bis drei!«
»Weg mit dem Spielzeug«, zischte Carlo in äußerster Erregung, ließ Coras Hände los und versuchte, mir die Waffe wegzureißen. Doch durch seine heftige Drehbewegung rutschte sie ab, geriet ihm auf Brusthöhe und ging los.
Habe ich abgedrückt? Es muß so gewesen sein, und doch kann ich mich nicht erinnern, es getan zu haben. Wie wir später erfuhren, war die Herzmuskulatur durch die starke Druckwelle zerrissen. Auf Cornelia lag ein lebloser Sack, aber das begriffen wir nicht sofort. Wir stießen ihn gemeinsam herunter und sahen uns zitternd in die Augen. Wir konnten weder weinen noch sprechen. Erst nach einigen Minuten wälzten wir Carlo auf den Rücken und verstanden schockartig, daß wir einen Toten vor uns hatten.
Cora tastete nach seinem Puls. »Ich glaube, wir müssen einen Krankenwagen bestellen«, sagte sie, denn sie konnte die Wahrheit nicht aussprechen.
»Das Bild in Lübeck!« Genauso hatte jenes schwarz-weiß-rote Gemälde ausgesehen. Zwar hatte mein Bruder keine blutende Wunde, aber das rote Seidenhemd, die weiße Leinendecke und das schwarze Haar hatten identische Farben mit jenem visionären Bild meines Vaters. Keine weitere Farbe war im Spiel.
In jenen grauenhaften Minuten tat Cora das einzig Richtige: sie rief ihren Vater an. Zum Glück war er sofort erreichbar, und ich werde nie vergessen, was er in der Folgezeit für mich getan hat.
Zwar muß ihn Coras gestammelte Botschaft schrecklich verwirrt und getroffen haben, aber er behielt die Ruhe, befahl uns, im Wohnzimmer auf ihn zu warten, er sei sofort da. Gleichzeitig mit dem Professor trafen ein befreundeter Arzt und ein Rotkreuzwagen mit heulender Sirene ein. Coras Vater hatte des weiteren seiner Sekretärin befohlen, den Rechtsanwalt der Familie zu verständigen.
Nachdem der Professor den Sanitätern versprochen hatte, die Polizei zu verständigen, fuhren sie unverrichteter Dinge davon. Der Rechtsanwalt ließ sich die Situation schildern und war beim anschließenden Gespräch mit Polizei, Psychologen und einer Kriminalbeamtin anwesend.
Um es kurz zu machen, die folgenden Wochen vergingen qualvoll, aber ich bekam keine Jugendstrafe. Die Sache wurde schließlich als Unfall in Notwehrsituation bezeichnet und zu den Akten gelegt, wobei ich allein weiß, daß es ebensogut als vorsätzliche Tötung gelten konnte. Schon seit vielen Jahren hatte ich meinen Bruder umbringen wollen.
Viel schlimmer als die polizeilichen Ermittlungen war es für mich, meiner Mutter gegenübertreten zu müssen. Auch hier stand mir Herr Schwab zur Seite, wie er sich letzten Endes von nun an um alles kümmerte. Er ließ den geliehenen Sportwagen von einem Polizisten zum Besitzer zurückfahren, er telegrafierte seiner Frau, und er brachte Cora zu seiner Sekretärin, bevor er mit mir gemeinsam zu Mutter fuhr. Er hatte den Kriminalbeamten verboten, sie zu benachrichtigen. Meine Mutter sah mich an und wurde weiß wie die Wand. Das Kainsmal stand mir auf der Stirn geschrieben.
Ich konnte nicht sprechen. Der Professor, der meine Mutter nicht kannte und eigentlich ein Mann war, der menschlichen Konflikten gern aus dem Weg ging, handelte bewundernswert. Er zog sie aufs Sofa, hielt ihre knochige Hand und sagte schonend einen Teil der Wahrheit. Sie hat nie erfahren, daß ihr Sohn meine Freundin vergewaltigen wollte, und der Professor vermied es auch auszusprechen, daß ich die Pistole benutzt hatte.
Aber meine
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