Die Häupter meiner Lieben
Mutter, die ihn mit aufgerissenen Augen ansah, zeigte plötzlich mit dem Finger auf mich. »Die hat es getan!«
»Nein, Frau Westermann«, sagte der Professor, »ein entsetzlicher Unglücksfall, nicht wahr, wie in der griechischen Tragödie. Drei ahnungslose Jugendliche, die miteinander balgen, die nicht wissen können, daß eine Gaspistole, die aus unmittelbarer Nähe abgefeuert wird, gefährlich werden kann. Auch für Experten ist so ein Fall mit Todesfolge die große Ausnahme. Frau Westermann, es ist ein Unglück für uns alle, am meisten aber für Sie, unfaßbar und tragisch, aber bitte geben Sie nicht Maja die Schuld.«
Meine Mutter starrte mich weiter an. »Ein Unglücksfall«, sagte sie ganz langsam, »das hat Roland auch behauptet. Maja kommt ins Gefängnis wie ihr Vater.«
Nach längerer Zeit ließ uns der Professor allein, er meinte wohl, sich nun um seine fast vergewaltigte Tochter kümmern zu müssen. An der Haustür, wohin ich ihn begleitete, ließ er sich die Telefonnummer meines Bonner Onkels aufschreiben, dem er wohl die weitere Verantwortung übergeben wollte. Mein Vater hatte kein Telefon.
Nun war ich allein mit Mutter und begann mich zu fürchten. Sie sprach weiterhin nicht mit mir, weinte nicht und blickte mit einem irren Ausdruck ins Leere, der mir jeden Mut nahm, ihr durch Worte oder Körperkontakt Trost zu geben. Dabei hätte ich selbst dringend Trost gebraucht, mehr denn je in meinem Leben. Plötzlich kam mir der Gedanke, aus dem Fenster zu springen und so meiner tiefen Verzweiflung ein Ende zu bereiten. Das Ausmalen einer Doppelbeerdigung spendete mir schließlich doch so etwas wie Tröstung, weil ich bei der Vorstellung, Vater und Mutter im Unglück vereint vor unseren Gräbern stehen und weinen zu sehen, endlich selbst weinen konnte.
»Laß mich allein«, murmelte Mutter irgendwann an diesem Abend. Ich war erleichtert, daß sie überhaupt etwas sagte, und ging auf mein Zimmer, um dort weiter zu schluchzen.
Als das Telefon klingelte, hob Mutter nicht ab. Sie saß noch genauso da und rührte sich nicht. Es war ihr Bruder aus Bonn, den der Professor angerufen hatte und der nun mit Mutter sprechen wollte. »Onkel Paul«, sagte ich und hielt ihr den Hörer hin. Sie nahm ihn nicht, und der Onkel versprach, am nächsten Tag zu kommen.
Es rief noch einmal an: Cora. Sie wirkte gefaßt, aber in Gegenwart meiner starren Mutter wagte ich nicht, länger mit ihr zu sprechen. Sonst hatte ich stets das Telefon in mein Zimmer getragen, aber diesmal ging es nicht mehr um Schulmädchengeheimnisse, sondern um Brudermord. Cora schien die Situation zu begreifen. »Ich komme morgen vormittag«, versprach sie.
Ich muß in dieser schlaflosen Nacht doch geschlafen haben, denn als ich gegen drei hochfuhr, sah ich, daß das Licht im Wohnzimmer gelöscht und Mutter zu Bett gegangen war. Unter Tränen schlief ich wieder ein.
Als Cora am nächsten Morgen erschien, schlief Mutter immer noch, und ich traute mich nicht, die Tür zu Carlos Zimmer zu öffnen, denn sie schien sich dort hingelegt zu haben. Es war Samstag, Mutter hatte frei, und wir mußten nicht zur Schule.
Gegen Mittag kam Onkel Paul aus Bonn. Wir betraten gemeinsam Carlos Zimmer. Offensichtlich hatte sie eine Überdosis Schlaftabletten genommen. Fast kam ich mir nun auch wie eine Muttermörderin vor, weil ich nicht früher den Mut gehabt hatte, an ihr Bett zu treten. Es war aber nicht zu spät. Mutter lebte und bekam den Magen ausgepumpt. Allerdings entließ man sie nach einigen Tagen im Krankenhaus nicht nach Hause, sondern überwies sie in eine psychiatrische Klinik. Sie lehnte meine Besuche ausdrücklich ab.
Mein Onkel blieb ein paar Tage und wollte mich mit nach Bonn nehmen. Ich widersetzte mich heftig. Er durfte Mutter zwar täglich besuchen, aber anscheinend wußten beide nicht, wie alles weitergehen sollte. Mutter war in eine schwere Depression gefallen, und die Ärzte hatten erklärt, daß man mit einer längeren stationären Behandlung rechnen müsse.
Schließlich war Onkel Paul einverstanden, daß ich vorerst im Hause des Professors wohnte und mich weiter auf das Abitur vorbereitete. Coras Mutter war sofort aus den Staaten zurückgeflogen und hatte angeboten, daß ich »bis auf weiteres« bleiben sollte. Anscheinend wurde diese stets aushäusige Frau von Gewissensbissen geplagt, weil sie zu wenig daheim gewesen war und ihrer Erziehungspflicht nicht genügt hatte.
Als die ersten schrecklichen Wochen vorüber waren, mußten sich Cora und
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