Die Häupter meiner Lieben
von ihm sein, auch meine leicht abstehenden Ohren, aber die melancholischen Gesichtszüge hatte ich von Mutter. Ich wollte weder wie sie sein noch wie sie aussehen und wäre am liebsten ein Kuckucksei gewesen.
Als ich eines Nachmittags vom Einkaufen zurückkam - Mutter ließ mir häufig eine Liste mit Aufträgen auf dem Tisch liegen -, stand Carlo vor der Küchenspüle und rasierte sich ungeniert die Beine. »Bist du noch dicht? Willst du Transvestit werden?« fragte ich.
»Die Profis machen das alle. Meinst du, ich hätte nur zum Vergnügen täglich trainiert? Morgen mache ich bei einem Radrennen mit.«
»Denkst du am Ende, ohne Haare bist du schneller?«
»Vielleicht ein wenig, aber man macht es wegen der Verletzungen. Es ist schlecht, wenn Härchen in die Wunde kommen; außerdem hat es der Masseur leichter.«
Ich staunte. Hatte ich Carlo unterschätzt? »Seit wann hast du einen Masseur?«
»Das kommt noch, wenn ich Profi werde. Setz dich mal in Bewegung, Elefantin, entweder du holst mir den großen Spiegel aus dem Flur, oder du rasierst mir die Rückseite selbst.« Ich beeilte mich, den Spiegel zu holen, obgleich ich Carlo nicht ungern beim Rasieren geschnitten hätte.
»Das war dein Glück. Übrigens wollte ich schon lange fragen, wer das Bild in Coras Zimmer gemalt hat?«
»Wieso warst du in Coras Zimmer?«
»Wenn du dich zu erinnern geruhst, hat sich keine Sau bei eurer Kinderparty um mich gekümmert. Da hab' ich mich auf eigene Faust umgesehen. Also, wer hat euch gemalt?«
Ich konnte meistens nicht so flott lügen wie Cora. »Ist doch egal«, sagte ich ungeschickt. Es war ihm nicht egal, er drehte mir den Arm um.
»Ein Onkel von Cora«, sagte ich.
»Lüg mir nichts vor. Ich habe es selbst erst spät kapiert, es muß von Vater gemalt sein. Sein Zeichen steht darunter, es kam mir sofort bekannt vor, aber ich bin nicht gleich darauf gekommen.« Mit nassen Beinen lief er zu seinem stets abgeschlossenen Schreibtisch und kramte eine kleine schmuddelige Landschaftsskizze heraus. Das Zeichen, ein verschlungenes R.W., stand für Roland Westermann. Ich ließ den Kopf hängen.
»Also raus mit der Sprache, ihr müßt ihn besucht haben. Wenn du nicht sofort mit der Wahrheit herausrückst, werde ich es Mutter sagen.«
Warum konnte ich diesen Gedanken nicht ertragen? Weil ich spürte, Mutter mit solchen Enthüllungen das Herz zu brechen. Das Thema >Vater< war ein Tabu, dessen bloße Berührung eine Katastrophe heraufbeschwor. Carlo und ich waren noch klein, als Vater uns verließ, und wir hatten zunächst nach seinem Verbleib gefragt. Aber die fast zu Tode entsetzte Miene unserer Mutter, ihr weißes tränenloses Gesicht und das Zittern ihrer Hände hatten mehr verraten als der zusammengepreßte Mund und das hilflose Kopfschütteln.
»Wir waren in Lübeck.« Ich gab es zu. Carlo war natürlich bis zum Bersten gespannt, und ich erzählte zögernd von Vaters Tätigkeit als Blutbote, von seiner großen Armut und seiner menschenunwürdigen Unterkunft. Von meinem eigenen Schock über sein versoffenes Gehabe, sein ungepflegtes Äußeres und seine egozentrische Einstellung verriet ich nichts, ebenso sagte ich kein Wort über unsere Geldbeschaffung.
Carlo erregte sich so, daß er aufhörte, den schwarzen Pelz von seinen Beinen abzuschaben. Sein Haß auf Vater wurde durch meinen Bericht geschürt. Er konnte überhaupt nicht begreifen, daß wir mehrmals dort gewesen waren, um uns porträtieren zu lassen.
»Was hält Cora von diesem Menschen?« fragte er, denn ihre Meinung war wichtig für ihn.
»Sie kam mit Vater gut zurecht«, sagte ich.
Cornelia war der einzige Mensch, der meine Enttäuschung sofort erkannt hatte, dem ich vertrauensvoll mein Herz ausschütten konnte. Bei Carlo, der mich nie gemocht hatte, war ich mir im Grunde nicht sicher, ob er nicht trotz seines Versprechens meiner Mutter alles sagen würde: um ihr weh zu tun, um sich interessant zu machen, um ihr zu zeigen, daß ich eine verdorbene Tochter war, die ein Tabu durchbrochen hatte.
Schwarzer Freitag
Gelegentlich biete ich einem interessierten Publikum an, eine Shopping-Tour zu unternehmen. Es gibt immer Menschen, die es schätzen, wenn man sie in die richtigen Geschäfte führt. Natürlich bekomme ich eine Provision, wenn ich betuchte Touristen in Schuhgeschäfte, Designerläden oder zu Antiquitätenhändlern führe. Bei letzteren handle ich für meine Kundschaft einen günstigen Preis aus, und der Verkäufer gibt sich den Anschein, als ob
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