Die Häupter meiner Lieben
ein Gefängnis, in dem ich jahrelang gelebt hatte.
Vater machte keine Versuche, für mein Leben Verantwortung zu übernehmen oder planend einzugreifen. Ich sagte ihm, daß ich bei meiner Freundin wohnen wolle und daß Onkel Paul meinen Unterhalt bestreiten werde. Er nickte, vielleicht schämte er sich. Es sei ihm schwergefallen, die Bahnfahrt zu bezahlen, sagte er mir. Der Kauf zweier Schnapsflaschen war ihm anscheinend leicht gefallen.
»Na, denn man tschüs«, mehr brachte mein Vater beim Abschied wieder nicht heraus. Aber ich konnte seine traurigen Augen nicht vergessen und dachte in der Folgezeit nicht bloß verächtlich, sondern auch mitleidig an ihn.
Cora und ich hatten uns geschworen, keiner Menschenseele von jenem Zeitungsartikel, den wir in der Bahn gelesen hatten, zu erzählen. Auch unseren Psychotherapeuten, denen von Berufs wegen Schweigepflicht verordnet war, wollten wir vor allem in diesem Punkt keinen reinen Wein einschenken. Alle, von der Polizei bis zu unseren Eltern, von den Lehrern bis zu den Mitschülern, glaubten, daß ich die Waffe nur als Drohmittel gebraucht hatte und von ihrer Harmlosigkeit überzeugt war. Auch Carlos häßliche Rolle wurde der Allgemeinheit verschwiegen, allerdings wußten in diesem Fall die Kriminalbeamten, Coras Eltern, der Rechtsanwalt und die Psychologen, daß eine versuchte Vergewaltigung vorlag. Die Version für Presse, Schule und meine Mutter lautete: bei einem harmlosen Gerangel und Rollenspiel hatte ich versehentlich die Gaspistole abgedrückt. Bis auf meine Mutter brachten alle Mitmenschen Verständnis und Mitleid auf, wahrscheinlich fand jeder mit einem Funken Einfühlungsvermögen, daß es grauenhaft sein mußte, den eigenen Bruder auf dem Gewissen zu haben. Nur mit Cora sprach ich darüber, daß ich mich als Mörderin fühlte, und sie war als einzige dazu imstande, mir meine Schuldgefühle auszureden.
»Zu einem Mord gehören niedrige Beweggründe, und du wolltest mir helfen! Der Mord muß heimtückisch oder grausam ausgeführt werden - beides trifft nicht zu! Dann gibt es noch das Motiv >Zur Ermöglichung oder Verdeckung einer anderen Straftat< - das war auch nicht der Fall.«
Ich sah alles ein, und doch wußte ich, daß in meiner hintersten Hirnkammer ein Tötungswunsch bestanden hatte, wie ihn wahrscheinlich viele Menschen mit sich herumschleppen, ohne daß es zu einer Katastrophe kommt.
Aber etwas moralisch schwer Belastendes kam in meinem Fall dazu: Ich war froh, von Mutter und Bruder befreit bei Cora zu leben. Nie zuvor hatte ich es so gut gehabt.
Siena
Es gibt wenig Menschen, die allein verreisen. Gerade deswegen sind sie interessanter als die Rudeltiere. Da gibt es den Typ Steppenwolf, meist männlichen Geschlechts und Esoteriker. Er sitzt selten im Touristenbus; eher der Einzelgänger mit Kunsttick, der bestimmte Glockentürme oder andere abseits gelegene Trophäen sammelt. Die alleinreisenden Frauen sind meistens nicht so versponnen, sondern machen das Beste aus ihrer Situation. Aber allen, ob Mann oder Frau, haftet etwas Trauriges an, wenn sie einsam Ferien machen und ohne Freunde oder Familie beim Essen sitzen. >Die Winterreise<, denke ich dann unwillkürlich.
Unter den vielen verschiedenartigen Paaren gibt es gelegentlich auch Geschwister, die zusammen verreisen. Mit Argwohn sehe ich Bruder und Schwester einträchtig nebeneinander sitzen. Mein Bruder Carlo verdankt mir, daß er nie mehr verreisen, Rad fahren, mit Freundinnen schlafen oder ein Auto besitzen kann. Und ich verdankte diesem Umstand eine neue Familie.
Nach Carlos Tod hätte ich mich sehr gefreut, wenn mir Coras Eltern das Du angeboten hätten, wenn ich sie mit »Ulrich« und »Evelyn« hätte anreden können. Aber auf diesen Gedanken sind sie nie gekommen, es blieb bei »Herr und Frau Schwab«. Es hätte gerade noch gefehlt, daß ich Professor und Doktor sagen sollte, aber so ließ sich Coras Vater selbst von seinen Studenten nicht anreden.
Onkel Paul zahlte ohne Begeisterung, aber pflichtbewußt Alimente für mich. Ich wußte, daß diese Summe für meinen früheren Unterhalt gereicht hatte, aber beim aufwendigen Lebensstil in diesem Haus zuwenig war. Das Essen war von besserer Qualität, die Wäsche wurde häufiger gewechselt, eine Haushaltshilfe hielt das Haus sauber; man bezahlte mir Eintrittskarten für kulturelle Veranstaltungen, man kaufte mir Kleider und Wäsche, Bücher und Kosmetika. Ich gewöhnte mich schnell an einen höheren Lebensstandard,
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