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Die Häuser der anderen

Die Häuser der anderen

Titel: Die Häuser der anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silke Scheuermann
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nicht einmal traurig.
    Am nächsten Tag lag sie zum Nachmittagsschlaf im Bett und wachte auf, als es mehrfach drängend klingelte. Sie sah wie immer zuerst auf die Uhr, um sich eine grobe Orientierung zu verschaffen. Es war halb fünf, und es passte ihr nicht, dass jemand etwas von ihr wollte. Irgendwann, als es nicht aufhörte, schleppte sie sich zur Tür und öffnete. Da stand eine fremde Frau, vielleicht in ihrem Alter oder etwas jünger. Ihr Gesicht war verschlossen und schön wie eine Meermuschel, sie hatte gewölbte Augenlider, hohe Wangenknochen, breite und schräge Nasenflügel und war trotz dieser indianischen Züge sehr blond. Erleichtert, dass es sich weder um eine wohlmeinende Freundin, ihre Mutter oder sonst jemanden handelte, den sie kannte, sagte sie Hallo.
    Kitty, die mit Dorothee zur Tür getrottet war, hob nur leicht den Kopf, sie bellte nicht und sprang auch nicht an dem Besuch hoch. Die Frau schenkte dem Hund keine Beachtung, sondern sah nur Dorothee nervös an. Vielleicht, dachte Dorothee einen Moment lang, sind wir drei hier alle schon längst tot und riechen daher nach nichts, und Hunde bellen nicht mehr und haben kein Revier zu verteidigen.
    »Oh, hallo. Guten Tag. Ich heiße Luisa Temper. Ich bin vor einer Weile mit meinem Mann – und mit unserem Hund – hier in die Straße gezogen und habe mir neulich sagen lassen, es wäre unhöflich, sich nicht den Nachbarn vorzustellen. Etwas spät nun – aber ich wollte das nachholen.«
    »In welchem Haus wohnen Sie denn?«, fragte Dorothee höflich und überlegte, während die Fremde antwortete, wann sie sich zuletzt die Haare gekämmt hatte. Aber die Fremde hatte entweder eine enorme Selbstbeherrschung, oder es war nichts besonders verwahrlost an ihr. Es war jedenfalls angenehm, einmal mit einer Person zu sprechen, die Frank nicht gekannt hatte, die nichts von Dorothees Schicksalsschlag wusste und der daher das Mitleid nicht aus allen Ritzen tropfte.
    Sie bat die Frau ins Wohnzimmer, schlug ihr das Du vor, und diese Luisa Tempel oder Tamsel, die geradezu erschrocken schien von der Freundlichkeit, die ihr hier entgegenschlug, ließ sich willenlos auf das Sofa setzen. Sie gab bereitwillig Auskunft – sie war achtunddreißig, Kunsthistorikerin und freie Dozentin, verheiratet –, und Dorothee versuchte ganz ernsthaft, davon etwas mitzubekommen, aber es war, als hätte ihre Energie nur für die Fragen gereicht. Schweigen trat ein, und Dorothee hatte plötzlich den Einfall, die Fremde könnte doch hier auf sie warten, während sie wieder eine Stunde in Franks Zimmer verbrachte. Und so kam es, dass sie von ganz alleine den Unfall ihres Mannes, der noch nicht lange her war, erwähnte, und daraufhin traute Luisa sich natürlich nicht, ihr die Bitte abzuschlagen.
    In Wirklichkeit lebte Luisa schon länger am Kuhlmühlgraben, wo sie sich niemals irgendwelchen spießigen Nachbarn vorgestellt hatte, und sie und Dorothee waren sich bloß zufällig noch nie begegnet. Nun, vielleicht nicht ganz: Seit einem gewissen Ereignis war Luisa ihr absichtlich aus dem Weg gegangen. Reiner Zufall war jedenfalls, dass Luisa Frank einmal, als Dorothee bei irgendeiner Kunsthandwerksmesse war, bei einem Grillabend getroffen hatte. Reiner Zufall war weiterhin, dass beide allein zu diesem eher betulichen Ereignis gekommen waren – was erwartet man schon von einer Einladung zu einem »fröhlichen Grillabend«, hatte Frank geflachst – und dass sie sich sehr gut verstanden. Seine betont proletenhafte Art, hinter der sie einen empfindsamen und intellektuellen Menschen vermutete, gefiel Luisa, und ebenso, wie er sie mit Komplimenten überschüttete. Seit der Nacht mit Frank jedenfalls lief es in Luisas Ehe wieder besser. Sie hatten sich nicht wieder gesehen, und das war gut so. Luisa war ein Mensch, der sowieso zu schlechtem Gewissen neigte, und ihr Fehltritt bescherte ihr unzählige wache Nächte und müde Tage. Und jetzt das. Sie hatte dem Begräbnis in einer der hinteren Reihen beigewohnt, immer absurdere Schuldtheorien entwickelt und sich zuletzt entschlossen, dass sie zumindest einmal mit Dorothee sprechen, sie kennenlernen müsste. Aber als sie jetzt so vertrauensselig aufgenommen wurde, war sie beinahe ein wenig erschrocken. Zum Glück verhielt Kitty, die ebenfalls Teilnehmerin an dem Grillfest gewesen war, sich ihr gegenüber nicht auffällig, kein Zeichen, dass sie sie jemals zuvor gesehen hatte.
    Dorothee sah schlecht aus, mit Augenringen und rotem Ausschlag im

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