Die Häuser der anderen
ganzen Gesicht. Sie war unglaublich mitteilsam, aber auf eine völlig verquere, aufgelöste Art. Sie erklärte Luisa, wie angenehm es sei, einmal mit jemandem zu sprechen, den man nicht kannte, und dass sie auf ärztlichen Rat hin jeden Tag zwischen fünf und sechs Uhr abends im ehemaligen Arbeitszimmer ihres Mannes sitzen und an ihn denken sollte. Luisa war sich wirklich nicht sicher, ob sie das für den besten aller Ratschläge hielt, wagte aber nach dieser kurzen Bekanntschaft nicht, sich einzumischen, und schlug daher vorsichtig vor, dass sie ein andermal wiederkäme, sie habe sich ja ohnedies nur vorstellen wollen. Insgeheim fragte sie sich, ob dieser Dorothee eigentlich klar war, dass sie auf jemanden, der nicht von ihrem Schicksalsschlag wusste, wie eine Geistesgestörte wirkte. Aber dann fragte Dorothee unvermittelt, ob sie nicht noch eine Stunde bleiben könnte, vielleicht ein bisschen in einer Zeitschrift blättern und auf Kitty aufpassen – sie habe doch gerade gesagt, sie sei ebenfalls Hundebesitzerin, nicht wahr? Als Luisa, der heiß und kalt wurde bei dem Gedanken, hier in dieser ungesunden Atmosphäre noch mehr Zeit verbringen zu müssen – eine Stunde gar –, einen Laut von sich gab, nahm Dorothee das für ein »Ja«. Sie erklärte: »Prima, bis gleich«, und verzog sich in Franks Zimmer.
Das ist alles nicht gut, dachte Luisa. Was habe ich mir bloß dabei gedacht, hier hereinzuplatzen? Jetzt sitze ich statt bei Benno zu Hause in einem fremden, völlig geschmacklosen Wohnzimmer vor einem halbtoten Hund, während die trauernde Witwe meines One-Night-Stands ein paar Meter hinter der Wand, im ehemaligen Zimmer des Toten, irgendein merkwürdiges Ritual absolviert.
Sie betrachtete die dunkle Schrankwand, den riesigen, flachen Fernseher und die imposante Sammlung dvd s. Sie sah in diesem Wohnzimmer, und das war kein Witz, kein einziges Buch. Was sollte sie jetzt tun, womit sollte sie sich eine Stunde lang beschäftigen? Das Nachmittagsprogramm gucken? Einen Film? Oder sollte sie einfach gehen? Es würde dieser augenscheinlich unter Medikation stehenden Frau vielleicht gar nicht auffallen. Dann sah sie, dass die Terrassentür sperrangelweit offen stand, und hatte eine Idee: Sie würde kurz durch den Garten nach Hause gehen, sich den Stapel mit Brücke-Hausarbeiten holen, den sie gerade durchkorrigierte, und hier eine Stunde arbeiten, dann wäre das keine verschwendete Zeit, sondern ausgesprochen effizient. Sie schaute kurz zu dem Hund, aber der schlief und merkte nichts.
Als Luisa nach kaum zehn Minuten zurückkam, fand sie alles unverändert vor. Mit ihren Papieren hockte sie sich an den peinlich geschnitzten, farblich anscheinend passend zur viel zu dunklen Sofagruppe ausgesuchten, niedrigen Tisch und begann zu lesen. Zuerst störte sie das laute, unregelmäßige Atmen des fremden Hundes, dann konnte sie sich erstaunlich gut konzentrieren. Sie las die eher fantasielose Zusammenfassung über Veränderungen in Ernst Ludwig Kirchners neuem, im Schweizer Kurort Davos entwickelten Malstil, die eine eigentlich sehr begabte Studentin verfasst hatte, als ihr auffiel, dass sie die Atemzüge nicht mehr hörte.
»Kitty?«, fragte sie. Keine Regung. Sie stand auf und ging hin. »Kitty! Kitty!«
Keine Regung. Es war ganz klar. Sie versuchte, rational zu sein. Diese Hündin war alt – schon seit langem. Vor Monaten, bei dem Grillfest, hatte Frank ihr zwei Stückchen Rindfleisch geradezu ins Maul schieben müssen, Fleisch, für das ein normaler Hund Hunderte von Metern galoppiert wäre. Aber Dorothee, wie würde sie es aufnehmen? Eine Stimme in Luisa behauptete, es könne nicht so schlimm sein, da sie ja den anderen Verlust hatte hinnehmen müssen, da kam es auf den Hund nicht mehr an. Ihre Gedanken rotierten noch, als Dorothee auf einmal im Türrahmen stand.
»Ist was? Ich dachte gerade, ich hätte dich was sagen hören?«
Dann wanderten ihre Augen zu Kitty. Wieder zu Luisa. Zu Kitty. Und sie fing an zu schreien. Luisa hatte noch nie jemanden so entsetzlich schreien gehört, sie musste sich die Ohren zuhalten. Der Schrei war nicht menschlich, er klirrte und gellte. Luisa versuchte, mit offenen Armen auf sie zuzukommen, um das Schreien einzudämmen, aber Dorothee begann, wild um sich zu schlagen. Luisa hatte nicht gewusst, wie lange ein Mensch am Stück schreien konnte, anscheinend ohne Luft zu holen; sie hätte niemals gedacht, dass eine Person aus allen Fasern heraus schreien konnte.
Dorothee existierte
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