Die Häuser der anderen
dachte gerade«, prustete er los, »ich dachte gerade, dass es wie im Kasperletheater ist!«
Sie drehte sich auf dem Absatz um, nahm ihre Tasche und den Stadtplan und wollte sich an ihm vorbei durch die Zimmertür hinausdrücken, da fragte er: »Wo willst du hin?«
»Frühstücken«, sagte sie.
Er war ihr dann nachgegangen, hatte höflich gefragt, ob er sich zu ihr setzen dürfe, und während sie ihre Grapefruit filetierte, genehmigte er sich noch ein Kännchen Kaffee und eine Portion Rührei, da er nicht wusste, wann er das nächste Mal etwas zu essen bekäme. So hielt er es dann die nächsten Tage über: Bereits gegen elf Uhr am Vormittag und um sechs am Abend, wenn er für eine Weile alleine war, während sie noch rasch den Palazzo Nummer siebenundachtzig ansah, nahm er einen Happen zu sich – belegte Panini, ein Pastagericht, Pizza, am besten etwas Fettes, Sättigendes, um dann später, im sorgfältig ausgewählten, Luisas Ansprüchen genügenden, also teuren Restaurant mit Engelsgeduld zuzusehen, wie Luisa sich an der ohnedies unverschämt kleinen Portion auf seinem Teller gütlich tat. In diesen zehn Tagen würde er gut vier Pfund zulegen – aber das merkte er erst später. Was er dagegen nach vier oder fünf Tagen feststellte, war, dass seine Aufopferung vollkommen unbemerkt blieb. Er begann sich insgeheim zu fragen, ob sie so sehr an seine schwache Position in ihrer Verbindung gewöhnt war, dass ihr wirklich nicht auffiel, was er alles für sie veranstaltete. Für sie und gegen sich selbst übrigens, denn er fühlte sich zunehmend körperlich unwohl, was natürlich an den schlechten, zu Unzeiten verschlungenen Mahlzeiten lag und daran, dass er von den guten nichts abbekam. Falls sie es nicht wahrnahm, dann lief schon seit Längerem etwas schief zwischen ihnen, denn er hatte sich selbst nie als Schwächling oder Narr gesehen. Falls sie es aber doch merkte und es ihr insgeheim gefiel, war sie nicht die Person, für die er sie all die Jahre gehalten hatte. Egal, was von beidem: Gut war das nicht. Er betrachtete sich abends im Spiegel und fragte sich, wann er begonnen hatte, freiwillig zwei Drittel seines Wesens unter Verschluss zu halten. Er beschloss, sie auf die Probe zu stellen. Eines Morgens, als es nach Regen aussah und er sie darauf hinwies, nahm sie dennoch keine Jacke mit.
»Das wird schon wieder schön«, sagte sie optimistisch. Er verzichtete darauf, ihr in seinem Rucksack eine Jeansjacke oder einen Pullover einzupacken, wie er es sonst getan hätte, um sie bei Bedarf damit zu überraschen. Nein, diesmal ließ er sie zähneklappernd neben sich herlaufen – er genoss jede Minute. Er hatte das Gefühl, zum ersten Mal einen Weg zu gehen, der zwar immer da gewesen war, den er aber nicht beachtet hatte. Sie stöhnte alle paar Schritte leise auf und schlang die dürren Arme um den Oberkörper – ein paar Passanten blieben stehen und sahen ihn, ihren Begleiter, in seiner warmen Lederjacke, mit Schal und Schiebermütze, vorwurfsvoll an. Nach einer Weile hielt Luisa an und fragte: »Macht es dir etwas aus, wenn wir umkehren und morgen da hingehen? Es ist so ein Mistwetter.«
»Du bist nur zu dünn angezogen«, erwiderte er. »Hör mal, das ist das am weitesten entfernte Stadtviertel und wir sind endlich da! Ich habe keine Lust, morgen den ganzen Weg noch mal zu laufen!«
Er deutete auf die weißen Schilder, die auf die Eingangskasse hinwiesen.
»Ich weiß.« Sie hatte Tränen in den Augen. »Und du hattest dich so darauf gefreut.«
Da hatte er mit den Augen gerollt, sich aus der Jacke geschält und sie ihr gegeben. Im ersten Moment hatte er innerlich triumphiert, einfach, weil er mal wieder Recht gehabt hatte. Erst später war ihm aufgefallen, dass er erstens jetzt trotzdem derjenige war, der fror, und sie sich zweitens weder bedankt noch für ihren Fehler entschuldigt hatte. Und dass sie ihm einen der Punkte, die ihm an der Reise am wichtigsten gewesen waren, ohne Weiteres von der Liste gestrichen hätte. Er interessierte sich für Architektur, auch Innenarchitektur, und die Ausstellung sollte Anregungen zum Thema »vertikale Gärten« geben – einem äußerst zeitgemäßen Topos, wie er fand. Aber für Luisa gab es keine Kultur nach 1920. Er hatte, frierend, kampfesmüde, weit weniger Spaß an der Schau, als es unter anderen Umständen der Fall gewesen wäre. Doch wie immer hielt er den Mund – lieber eine chronische Bronchitis riskieren und viele Monate seines restlichen Lebens ans Bett
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