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Die Haischwimmerin

Die Haischwimmerin

Titel: Die Haischwimmerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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versprechen.
    Â»Ich will aber«, sagte Tyrell und zeigte auf Lilli, »daß sie es mir verspricht.«
    Â»Wie hätten Sie es denn gerne?« fragte Lilli. »Hoch und heilig?«
    Â»Wenn Westmenschen von ›hoch und heilig‹ sprechen«, äußerte Tyrell, »hat das ebensowenig zu bedeuten, wie wenn sie beim Leben der eigenen Mutter schwören. Nein, mir wäre lieber, Sie lassen mir ein Pfand hier.«
    Â»Bei allem Respekt, Monsieur Tyrell, aber …« Es war Yamamoto, der nun meinte, auf gewisse Privilegien der Polizei bestehen zu müssen. Etwa die Beschlagnahme von Beweismaterial.
    Doch erneut bremste Lilli ihren Kollegen ein und erklärte, das gehe in Ordnung. Sie verstehe ganz gut die Bedeutung von Photos etwa im Vergleich zu den inflationären Bildern auf den Speicherkarten von Digitalkameras und Handys. Ein entwickeltes Photo sei ein Stück weit auch ein entwickeltes Leben.
    Eingedenk solcher Anschauung öffnete Lilli ihre Tasche und zog ein kleines Büchlein hervor. Ein geradezu verwundet anmutendes Diogenes-Taschenbuch, derart zerkratzt, daß man die Abbildung auf der Vorderseite kaum erkennen konnte. Eine Rembrandt-Zeichnung wohl, so als habe sich hier einer dieser verrückten Kunsthasser ausgetobt. Doch die zerschrammte Oberfläche war den vielen Jahren zu schulden, in denen Lilli dieses Buch unentwegt mit sich getragen hatte, verschüttet unter Schminksachen, Tampons und Puderdosen, geschunden von den scharfen Rändern aluminiumverhüllter Kopfwehpulver oder den Spitzen metallischer Haarbürsten. Zudem war das Buch auch dank puren Lesens »malträtiert« worden, kaum ein Gegenstand Lillis besaß eine so große Anzahl ihrer Fingerabdrücke. Dazu kamen die vielen schriftlichen Anmerkungen, Notizen und Unterstreichungen sowie die angefügten Klebezettel und Büroklammern. Keine Frage, der Inhalt des Buches beschäftigte Lilli seit über zwanzig Jahren, doch sein eigentlicher Wert ergab sich aus dem außergewöhnlichen Umstand, daß es sich hierbei um den einzigen Gegenstand handelte, den Lilli je gestohlen hatte. Damals, Ende der neunziger Jahre, als sie im Büro jenes Giesentweiser Notars gesessen hatte, um ihr Erbe anzutreten. Das Buch war auf dessen Bürotisch gelegen. Ein simples Taschenbuch aus dem Schweizer Verlagshaus, ein Auszugband aus einem vierbändigen Werk, keine Rarität, auch hatte Lilli nie zuvor den Namen des Autors gehört: Thomas von Kempen, ein Mystiker des 15. Jahrhunderts. Wieso also …? Sie konnte bis heute nicht genau sagen, was sie dazu getrieben hatte, in einem unbemerkten Moment, als sich der Notar mit Lillis damaligem Freund, Ivo Berg, unterhalten hatte, nach dem Büchlein zu greifen und es in ihrer dunkelblauen Handtasche verschwinden zu lassen. Eine noch dazu durchsichtige Handtasche, wobei allerdings das transparente Blau dieser Plastiktasche ins Schwärzliche tendierte und es somit eines überaus genauen Blicks bedurfte, die einzelnen Gegenstände darin zu erkennen. Was noch nie jemand versucht hatte, in zwanzig Jahren nicht. Nicht zu vergessen, es handelte sich um dieselbe Tasche, die Lilli fortgesetzt bei sich trug. Dieselbe Tasche und dasselbe Buch, so daß schwer zu sagen war, wer hier wen begleitete, die Tasche und das Buch eine Frau namens Steinbeck oder umgekehrt. Wie auch immer, es besaß einige Tragweite, wenn Lilli nun genau dieses Buch, diese Nachfolge Christi, als Pfand vor Tyrell auf den Tisch legte. Tyrell war klug genug, auch ohne Hintergrundgeschichte, allein den Anblick richtig deutend, zu erkennen, wie wichtig Lilli dieses abgegriffene, in den Jahren stark gealterte Diogenes-Bändchen war und daß sie ganz sicher die Photographien des Verdächtigen zurückbringen würde, um ihr Pfand einzulösen. Er nickte, befreite drei der Photoporträts aus ihren Halterungen und reichte sie Lilli. Das Büchlein ließ er dort liegen, wo Lilli es hingetan hatte. Vielleicht fürchtete er, es könnte zerfallen.
    Lilli fächerte die Photos wie bei einem Kartenspiel auf und studierte die Merkmale des Abgebildeten: seinen wuchtigen Körperbau, die handschuhartig dicken Hände, das schwarze, nach oben und hinten gekämmte Haar, die buschigen Augenbrauen zwischen einer glänzenden Stirn und den schmalen Augenschlitzen, diese gewisse Fleischigkeit des Antlitzes, aber nicht wie bei Kallimachos, nein, dieses Gesicht verriet

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