Die Haischwimmerin
als chinesischen Volksglauben bezeichnet. Jedenfalls verfügte das Kloster über eine Art Ahnenhalle, wo Bilder von Verstorbenen hingen. Wenigstens war dies Ivos Vermutung, denn auch diese Photos und Zeichnungen waren von dunklen Schichten überdeckt. Sogar das Essen an diesem Ort wirkte erdig, verbrannt, verkohlt, schmeckte aber sehr viel besser, als sein Anblick nahelegte. Bei den schwarz schimmernden Statuen, die überall herumstanden, handelte es sich wohl um Gottheiten. Allerdings wurde in ihrem Angesicht weder gebetet noch gekniet, noch wurden die üblichen Weihrauchstäbchen aufgestellt. Keiner dieser Mönche und Mönchinnen redete Englisch, während man sonst in China selbst im hintersten Kaff auf Englischmeister traf, die jeden Ausländer mit ihren Fähigkeiten bombardierten.
Was nun diese Klosterleute durchaus beherrschten, war eine andere Kunst: eine Kampfkunst (wenngleich man natürlich auch die englische Sprache als Kampfkunst hätte bezeichnen können). Doch das, was hier praktiziert wurde, hatte nichts Brachiales an sich: keine karateartigen Verrenkungen, keine Zirkusübungen, eher jenes Zeitlupenballett, das man als Tai-Chi kennt, wobei es bei der vorliegenden Variante darum ging, so nahe an sein Gegenüber wie nur möglich zu gelangen, ohne es aber zu berühren. Beziehungsweise allein mit der eigenen Atmung zu berühren. Daraus ergab sich die Möglichkeit, den Gegner im wahrsten Sinne des Wortes umzublasen. Nicht, indem man die eigenen Backen wie Superman aufblähte und dann einen Sturm entlieÃ, sondern mittels eines konzentrierten, zu einem dünnen, laserartigen Strahl gebündelten, lang anhaltenden Ausatmens oder besser Aushauchens. Wenn man das richtig machte, konnte man einen schweren Mann aus dem Gleichgewicht bringen, ohne daà der schwere Mann begriff, was da mit ihm geschah. In der Regel glaubten die solcherart zu Fall Gebrachten, ein Schlag habe sie erwischt, ein Schlag von solcher Rasanz, daà sie nicht nur nichts gesehen, sondern auch nichts gespürt hatten.
Doch in der Regel diente den Mönchen und Mönchinnen diese Technik allein dazu, sich in gemeinsamen Exerzitien â atmend und hauchend â aneinander zu reiben und gleichzeitig in Balance zu halten. Nette Ãbung! Und Ivo war in den Wochen, die er in der dunklen Erdigkeit dieses Klosters zugebracht hatte, in besagtes Atemwerk eingeführt worden. Dabei war es ihm einmal allen Ernstes gelungen, dank der Kraft seiner Lungen einen bloà mit der Spitze in die Wand geschlagenen Nagel vollständig im Mauerwerk zu versenken. Was ihm dann allerdings doch etwas unheimlich gewesen war. Er stellte sich nämlich vor, wozu man sonst noch so alles in der Lage sein könnte.
Das einzige Wort, welches die Mönche verwendeten, das Ivo verstand, war »Pneuma«, ein Begriff für Geist und Luft, aber auch für Druck. Ja, sie hatten ihm beigebracht, sein Pneuma wirkungsvoll einzusetzen, seinen eigenen kleinen Heiligen Geist.
Eingedenk des exotischen Charakters dieser Praktik war Ivo niemals wieder auf die Idee gekommen, sie zu nutzen und irgendwelche Nägel blasend einzuschlagen. Er hätte sich vorwerfen lassen müssen, unter die Zauberkünstler, ein wahrlich trauriges Gewerbe, gegangen zu sein. Und hätte diesem Vorwurf auch gar nichts entgegensetzen dürfen, um nicht erst recht als meschugge dazustehen. Darum also â¦
Doch als er nun die Faust dieses Mannes namens Heinz, den er unklugerweise dem Verdacht der Homosexualität ausgesetzt hatte, näher kommen sah, da reagierte er spontan mittels der in China erlernten Manier, wand sich in einer schattenboxerisch flieÃenden Bewegung am Schlag vorbei, preÃte die Arme gegen den eigenen Rumpf, verschränkte seine Hände über dem Bauch, machte sich so schmal als möglich und drehte sich einmal um die eigene Achse herum, so daà er mit seinem Gesicht ganz knapp vor dem Gesicht des anderen zu halten kam. Gleichzeitig atmete er aus, wobei der Hauch sich praktisch aus dem Magen hochschraubte, etwa wie eine Windhose, eine rüsselförmige, rotierende Säule, die nun als dünner Luftzug Ivos bloà leicht geöffneten Mund verlieÃ.
Da war nichts zu hören und nichts zu sehen. Aber die Wirkung war ebendie eines Tornados. Selbiger traf Heinz irgendwo in der Gesichtsmitte und versetzte ihm einen Schlag von solcher Kraft, daà es ihn rückwärts durch die Luft
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