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Die Haischwimmerin

Die Haischwimmerin

Titel: Die Haischwimmerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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entdeckt … nun, es war ihm quasi vor die Füße gefallen. Short Ride erschien ihm als seine Filmmusik, als die Musik, die seine Reise von nun an begleiten würde, wie Filmmusik das eben zu tun pflegt: auftauchend, verschwindend, hinweisend, den laufenden Bildern eine Stimme verleihend, die Übertreibung übertreibend: Gänsehaut und Tränen.
    Ivo bezahlte das unangetastete Bier und brach auf. Er wollte zurück zum Hotel, denn selbstredend befand sich in seinem Gepäck ein von Drahtverbindungen unabhängiges Notebook, mit dem er John Adams’ intelligente Faust auf seinen MP3-Player herunterladen konnte. Als er nun aber eine ganze Weile durch den dicht fallenden Schnee gestapft war, drängte sich ihm die Ahnung auf, sein Ziel verfehlt zu haben. Wobei er im Grunde zu denen gehörte, die meinten, vom angepeilten Objekt angezogen zu werden, wie an einem Faden, der einen hinein ins Hotel zieht.
    Aber da war kein Faden. Oder es war so, daß im Zuge der Wetterumstände auch das Hotel selbst den Überblick verloren hatte und außerstande war, Fäden durch die Stadt zu spannen, um jene Gäste, die sich ihrer Intuition oder falsch gelesenen Stadtplänen ergeben hatten, wieder einzufangen.
    Die Straßen waren jetzt leer, niemand hier, den Ivo hätte fragen können. In der Altstadt befand er sich wohl, die Häuser standen eng, aus vergitterten Schaufenstern fiel Licht und bildete zarte, schwebende Bühnen, lauter Dramen von Schnitzler oder Tschechow, wo blasse Frauen im Schnee stehen und frieren. Eine wunderbare Stille.
    Er spürte etwas hinter sich. Etwas Kleines. Aber der Eindruck der Kleinheit mochte vielleicht daher stammen, wie sehr im Schnee alles gedämpft und milde anmutete. Auch etwas oder jemand, der sich von hinten näherte. Eine Katze hatte in solchen Fällen etwas Mäuschenhaftes und ein Mann eher etwas Kindhaftes.
    Bevor sich Ivo noch umdrehen konnte, um die kindhafte Ausstrahlung der Bewegung in seinem Rücken zu überprüfen, legte jemand einen Arm um ihn, der sicher kein Kind war. Der Arm zog sich wie eine Schlinge um Ivos Hals, während die andere Hand gegen die Hüfte drückte. Beziehungsweise bahnte sich diese Hand an den Textilien vorbei einen Weg, wohl auf der Suche nach einer Geldbörse.
    Â»Jetzt werde ich sterben«, dachte Ivo mit einer verblüffenden Ruhe, so wie einer denkt: Jetzt kriege ich eine Glatze. Er war außerstande, sich zu wehren, Arme und Beine einzusetzen, derart heftig wurde er gehalten. Nur den Mund, den Mund konnte er noch bewegen und stieß ein von dünner Atemluft getragenes »Douchebag!« hervor.
    War das möglich? Sollte wirklich eine Macht der Wörter existieren, vor allem jener, deren Bedeutung man nicht kannte?
    Der Angreifer löste seinen Griff, trat einen Schritt zurück. Ivo fiel nach vorne. Sein Gesicht tauchte in den Schnee. Das Weiß wurde schwarz, und die Luft wurde dünn, und der Angreifer verschwand.
    Dafür wurde hörbar eine Tür geöffnet. Zwei Frauen traten heraus und halfen Ivo in die Höhe. Er spürte nur, daß es Frauen waren. Denn sehen konnte er sie nicht. Ihm war, als hätte der Schnee ihm ein schwarzes Band über die Augen gezogen.
    Während die Gefahr, erwürgt zu werden, ihn so merkwürdig ruhig gelassen hatte, geriet er nun in Panik, fürchtete, daß zwanzig Jahre später seine alte Krankheit, sein Lidkrampf, ihn erneut ereilt hatte.
    Doch kurz darauf, nachdem er von den helfenden Händen in einen Hausflur geführt worden war, ging auch das Licht in seinen Augen wieder an. Ja, wie zum Ausgleich für diese Verspätung seines »Augenlichts« erkannte er für einen Moment alles in einer übertriebenen Klarheit. Auch die vollen, großäugigen Gesichter der beiden Frauen, die da blond und stark geschminkt vor ihm standen, mit engen Jeans und engen Blusen und Ausschnitten von der Art, wie kleine Kinder Möwen zeichnen. Ihre Mienen waren besorgt und fragend. Sie redeten auf Ivo ein. Er zeigte an, sie nicht zu verstehen. Sie warfen ihm einige Brocken Englisch hin. Sie meinten wohl, er sei überfallen worden. Nun, das war er ja auch, allerdings war seine Geldbörse unangetastet, wie er nun feststellte. Er hielt sein Portemonnaie zeichenhaft in die Höhe, so daß die Besorgnis in den Gesichtern der Frauen sich zur Seite bog und ein Lächeln blütengleich ans Licht kam. Es war wirklich

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