Die Haischwimmerin
aus der Steiermark, Waldarbeiter des 19. Jahrhunderts, die sich zur Stärkung und Anregung kleine Mengen dieser psychoaktiven Substanz lutschend oder quasi als Aufstrich aufs Brot einverleibt hatten, ohne daran zugrunde zu gehen. Ivo gefiel die Vorstellung durchaus, auf eine modifizierte, eben homöopathisch heutige Weise als ein Nachfolger dieser Waldarbeiter gelten zu können, sowohl als Arsenkonsument wie auch als tätiger Mensch im Walde.
Nachdem die Globuli sich auf seiner warmen Zunge gleich winzigen Hagelkörnern aufgelöst hatten, fühlte sich Ivo rasch besser. Er zog sich an, nun aber feste Winterschuhe verwendend, über die er selbstverständlich in mehreren Versionen verfügte. Vor ihm lag immerhin ein weiterer, diesmal erwarteter Spätwinter. Ochotsk war nicht gerade berühmt für seine verfrühten Wärmeeinbrüche.
Es dämmerte, als er nach drauÃen trat. Der Schnee fiel jetzt bedächtig auf die im Weià daliegende Stadt. Es war Sonntag, viele Menschen unterwegs, entweder zum Abendessen oder in die Kirche. Nahe dem hoch aufschieÃenden Kulturpalast (eins dieser Gebäude aus Kunst und Rakete, welche AuÃerirdische im gesamten Ostblock aufgestellt und nicht wieder abgeholt hatten, während die auf Distanz gehaltenen Hochhäuser der neuen Ãra ganz sicher auf keine höhere Intelligenz schlieÃen lieÃen) betrat Ivo ein italienisches Restaurant, wo man ihn an einen kleinen Tisch führte. Er bestellte Pizza und Wasser. Die Pizza, die dann kam, war so dünn, wie er das noch nie erlebt hatte, schmeckte aber vorzüglich, wie zur Palatschinke mutiert: eine Verschlankung, die die Schmackhaftigkeit des Belags zu verstärken schien, als würden die Tomaten und Artischocken und die Kräuter geradezu aufatmen. Ohnehin brauchte bei Ivo eine Pizza nicht dick zu sein. Er bevorzugte beim Essen das Dünne und Leichte. Wenn er selbst einmal etwas mehr auf die Waage brachte, dann vom Arsen. Denn auch dafür ist Arsen ja bekannt, daà man davon zunimmt.
Dem ungewohnten Drang von zuvor nun doch noch nachgebend, bestellte er sich ein Glas Rotwein. Er hätte aber nicht sagen können, es schmecke ihm sonderlich oder er fühle sich irgendwie besser. Eher war es so, daà er das Gefühl hatte, etwas Notwendiges zu tun, in der Art einer Vorbereitung, eines Trainings. Als wollte er sich lieber hier und jetzt in aller Ruhe an das Trinken gewöhnen und nicht erst in einem Moment, wo alles viel zu rasch gehen würde. Wie gesagt, es war ein Gefühl, eine Ahnung, eine alkoholische Ahnung.
Als Ivo das Restaurant wieder verlieÃ, hatte erneut starker Schneefall eingesetzt. Da er nun aber mit den richtigen Schuhen und der richtigen Jacke bekleidet war, empfand er eine Freude ob des Wetters. Mit einem ungefähren Gefühl für die Topographie der Stadt setzte er sich in Bewegung, spazierte eine ganze Weile in Richtung der Weichsel und kehrte schlieÃlich in eine von vielen jungen Leuten besuchte Kneipe ein. Mehrere Bildschirme hingen über dem Gastraum, den seitlich eine lange Bar dominierte, an die sich Ivo setzte. Er bestellte ein Bier. Am Mittag des nächsten Tages sollte es nach Moskau gehen, was eigentlich kein Grund war, die Alkoholübung zu übertreiben.
Darum legte sich Ivo sicherheitshalber ein paar Arsenglobuli auf die Zunge und lieà das Bier erst einmal ein wenig stehen. Richtig, er hatte von Bier keine Ahnung.
Ein wenig mehr Ahnung hatte er von Musik, aber auch nur in der Weise, wie man die Namen von Weinen auseinanderhalten kann, aber nicht die Weine selbst. Und dennoch, nachdem er nun eine ganze Weile mit der wohltuenden Wirkung des Arsens und dem Anblick eines unberührten Bieres dagesessen und die Musik, die von den Videoclips herkam, als belanglose Zickenmusik abgetan hatte, drang mit einem Mal etwas an sein Ohr, das ihn aufhorchen lieÃ. Er blickte nach oben zu den Monitoren.
Zum raschen, konstanten, viertelgenoteten Fortissimoklang eines geschlagenen Holzes hatte eine Gruppe von Klarinetten eingesetzt, in die sich fanfarenartig weitere Blasinstrumente fügten, eine akustische Welle bildend, die in Bewegung war, ohne sich aber fortzupflanzen, ohne gröÃer oder kleiner zu werden. In sich selbst allerdings variabel, so als würde ein Puzzle mittels raffinierter Umschichtung ständig neue Bilder ergeben. Das alles mit einer erhabenen Wucht â präzise und kräftig. Eine Welle, die
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