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Die Haischwimmerin

Die Haischwimmerin

Titel: Die Haischwimmerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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ein ganzes Meer füllte, ein Meer, das genau vier Minuten existierte. So lange spannte sich dieses Musikstück in der Zeit, bevor es mit einem Finale endete, wie Ivo noch nie eins vernommen hatte – Zack, zack, zack! –, danach war alles tot: das Meer, die Welt, die Musik, die ganze Maschine.
    Denn um eine solche Maschine ging es, wie Ivo, der aufgestanden war, um besser sehen zu können, dem eingeblendeten Text entnahm: Short Ride in a Fast Machine by John Adams, Berlin Philharmonic, Sir Simon Rattle.
    Danach kam gleich wieder einer der üblichen Clips: hüpfende Mädchen, die ihre Bauchnabel der Welt entgegenstreckten, wie um aus diesen Nabeln Projektile abzufeuern und genau diese Welt abzuknallen. Aber diese Welt war ja bereits gestorben, wie Ivo dachte, im Zuge des Finales von John Adams’ Short Ride, einer Komposition, die aus dem Jahre 1986 stammte, wie er recht bald herausfand. Denn es gab hier auch einen Tisch mit Computer und Internetzugang, wohin sich Ivo nun begab, um Details über dieses zur intelligenten Faust geballte Stück Musik zu erfahren, das ihn in jeder Hinsicht mitgenommen hatte. Nie hatte er etwas Derartiges erlebt. Ihm war vollkommen klar, daß – mehr noch als der Alkohol, an den zu gewöhnen sich möglicherweise als unvermeidlich erweisen würde – es genau die soeben gehörte Musik war, dieser kurze Ritt in einer schnellen Maschine, die ihn auf seiner Reise ins und durchs ostsibirische Bergland begleiten würde, auch wenn es wohl kaum eine kurze Reise werden würde. Aber in einer schnellen, in einer sehr schnellen Maschine veränderte sich der Begriff der Zeit und eben auch der Kürze, weil man ja mit diesen Maschinen an weit entfernte Punkte reiste. Zum Bäcker um die Ecke nahm man keine Rakete, oder?
    Auf der YouTube-Plattform stieß Ivo auf mehrere Videoaufnahmen dieser Komposition. Minimal music! Auch so eine Schublade. Das wenige, was er aus selbiger kannte (vor allem Stücke von Steve Reich und Philip Glass), war ihm stets geschmäcklerisch erschienen, Kaufhausmusik für Gebildete, nett anzuhören, aber im Grunde belanglos, eintönig: ein dahinfließender Bach, ein langer Teppich, klapperndes Geschirr. – Das war in diesem Fall anders. Auch beim zweiten Mal Hören. Wobei Ivo genau dieselbe Interpretation mit dem weißhaarig aufleuchtenden Sir Rattle schauen konnte, die er zuvor, zwischen Böse-Mädchen-Musik eingebettet, erlebt hatte. Dazu gab es die bei YouTube obligaten Kommentare von Zuhörern zu lesen. Ivo war erstaunt, wie viele Leute sich in der elaboriertesten und auch leidenschaftlichsten Weise mit diesem Stück auseinandergesetzt hatten, variierend zwischen »Damn listen to the rhythm mistake at 2:01«, »Ouch … I heard a squeak from the clarinets around 0:8«, »Love the horns at 4:18!« und »Damn straight! Fuck!«.
    Der Vorteil war natürlich, daß man ein Stück von dieser Kürze gleichzeitig als kompaktes Ganzes ansehen, es aber ebenso in einer übersichtlichen Weise aufsplittern konnte. Wobei sich zudem eine recht heftige Diskussion darüber entspann, wie schlimm oder nicht schlimm es sei, John Adams’ »piece« fälschlicherweise als »song« zu titulieren, und wer sich nun darum eigne, als ein »douchebag« beschimpft zu werden. Ivo hatte nicht geringste Ahnung, was das überhaupt sein sollte, ein Douchebag, aber er beschloß, sich dieses Wort zu merken. Vielleicht würde irgendwann eine Situation eintreten, wo es sich anbot, diesen Begriff im Stile einer Waffe zu verwenden, einen Begriff, von dem er eben nur das Waffenhafte kannte. Ein Schwert – denn dies stellte das Wort ganz sicher dar –, dessen genaue Beschaffenheit, dessen Länge und Schärfe ihm unbekannt waren, so daß er nur darum auch wagen würde, es einzusetzen. So betrachtet, paßte Douchebag bestens zu der Zahl fünfhundertneunundzwanzig.
    Die Diskussion der Hörer auf YouTube gipfelte in einer Weise, die geradezu exemplarisch für die moderne Streitkultur westlicher Prägung stand, wenn da einer meinte, die Kommentare kommentierend: »Surprising amount of vulgarity on comments for classical music« und ein anderer darauf antwortete: »Surprising amount of musical elitism in the comments on a classical music video.«
    Damn right!
    Ivo jedenfalls war überglücklich, dieses Musikstück

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