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Die halbe Sonne

Die halbe Sonne

Titel: Die halbe Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aris Fioretos
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dir vor, man könnte – nicht die Biographie, sondern die Mythologie eines Wortes aufschreiben?
    EIN SOHN : Denkst du an ein bestimmtes Wort?
    DER GESTERBTE: Nicht »der Gesterbte«. Vielleicht nicht einmal »Er-der-nach-trockener-Erde-und-Oregano-riecht-und-die-Definition-von-Wärme-ist« ...
    EIN SOHN : Sondern?
    DER GESTERBTE : Papa. Was sonst?

Um Antwort wird nicht gebeten

    Der Vater sitzt mit etwas da, was nach einem Brief aussieht. Es braucht eine Weile, um zu verstehen, dass er nicht liest. Als er das Blatt glatt streicht, sieht der Sohn, dass es sich um eine Todesanzeige mit schwarzem Rand handelt. Er hört den Vater einen ungewöhnlichen Namen aussprechen, dann erklären, dass seine Mutter zu sagen pflegte, die Erinnerung sei ein Gefäß und die Toten Wasser. Wer davon trinke, werde nur noch durstiger.
    Der Sohn will wissen, ob die Großmutter damit meinte, dass man die Toten stattdessen vergessen solle? Der Vater wird unerwartet schroff. Was für ein wahnwitziger Gedanke. Aber vielleicht muss man lernen, sich zu erinnern, ohne Antworten zu erwarten.

Auf eigenes Risiko

    Während der Vater einen Arm ausstreckt, erzählt er von dem Verstorbenen. Sagt, dass er sechs Jahre alt war, als Atatürks Truppen ihn aus dem Dorf am Schwarzen Meer vertrieben. Dass er mit Mutter, Bruder und Schwester zu Fuß loszog – in ein Heimatland, das er nie zuvor besucht hatte. Dass die Mutter unterwegs starb, an Erschöpfung oder Diphtherie. Dass die Geschwister sich verloren und er seine Schwester niemals wiedersehen sollte. Dass er nördlich von Athen in einem Heim für elternlose Kinder einquartiert wurde. Dass er zunächst dort und später bei Pflegeeltern aufwuchs und so schnell wie möglich in die Hauptstadt ging. Dass er ein gutsortiertes Gehirn besaß und eine Stelle an einer Volksschule bekam, an der er schließlich als Rektor pensioniert werden sollte. Dass er im Krieg im Widerstand aktiv war. Dass er rätselhafterweise etwas Bulgarisch beherrschte. Dass er eines Tages rein zufällig seinem Bruder begegnete, den er nicht mehr gesehen hatte, seit er ein Kind war. Dass beide später behaupteten, die Zeit habe stillgestanden, während sie sich im Athen der fünfziger Jahre auf dem Bürgersteig umarmten. Dass keiner der Brüder danach mehr einen Tag verstreichen ließ, ohne sich beim anderen zu melden. Dass der Bruder sich jedoch zu den Lokalen um den Omoniaplatz hingezogen fühlte und man nicht sagen konnte, wovon er eigentlich lebte. Dass der Mann seine Frau bei seinem einzigen Besuch in einem Tanzlokal kennenlernte. Dass sie die Schwester vom Jugendfreund des Vaters war, dem Cousin-über-den-man-nicht-spricht, und gerade in der Hauptstadt zu Besuch. Dass es auch für sie der einzige Besuch in einem Tanzlokal war. Dass das Paar zwei Kinder bekommen sollte. Dass ihr älteres nach dem verlorenen Bruder der Frau getauft werden sollte und das jüngere nach der verlorenen Schwester ihres Mannes. Dass der Mann immer sehr ernst war. Dass es aussah, als hätte er praktisch keine Muskeln. Dass er stets die zuvorkommende Person mit pechschwarzen Augen und weißen, kurzärmligen Hemden blieb, als die der Sohn ihn in Erinnerung hatte. Dass er einen Vornamen unklarer Herkunft hatte (vielleicht griechisch, möglicherweise hebräisch), der sich wahrscheinlich von einem Fluss ableitete, als dessen Bedeutung man »Gefäß« oder »Behälter« annahm, was sich darauf zurückführen ließ, dass Pilger auf dem Heimweg aus dem Heiligen Land Wasser aus dem Fluss mitnahmen. Dass seine Frau den Verdacht hegte, dass ihr Gatte nicht rein griechischer Herkunft war, aber nur, wenn man mit ihr unter vier Augen sprach, sonst wollte sie davon nichts hören. Dass der Mann behauptete, er könne sich an nichts aus der Zeit vor der Flucht erinnern. Dass seine Frau den Kopf schüttelte und flüsterte, die Erinnerungen ließen ihn im Gegenteil keinen Schlaf finden – woher sollten die Ringe unter seinen Augen sonst kommen? Dass auch sein Bruder sich nicht der Zeit am Schwarzen Meer entsinnen wollte, aber unfähig war, an etwas anderes als ausgerechnet daran zu denken. Dass beide wie Wasser waren, das aus einer unbekannten Quelle getragen wurde. Dass keiner von ihnen jemals die Kunst lernte, sich heimisch zu fühlen.
    »Und deshalb«, sagt der Vater, nachdem sein Sohn den schwarzen Flor um seinen Ärmel gerade gerückt hat, »trinken wir auf eigenes Risiko aus der Erinnerung.«

Wasser und Wasser

    Das mit dem Wasser geht dem Sohn nicht aus dem Kopf. Er

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