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Die Hand die damals meine hielt - Roman

Titel: Die Hand die damals meine hielt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie O Farrell
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»Alles in Ordnung«, sagt sie. »Alles bestens. Sie haben einen prächtigen, gesunden Jungen.«
    Elina schwebt mit dem Kind auf dem Arm aus dem Gesundheitszentrum hinaus, die Decke über den Kleinen gebreitet, um ihn vor der blendenden Sonne zu schützen. Sie liebt die Schwester, sie könnte sie küssen. Die Worte prächtig, gesund und Junge flattern wie Schmetterlinge in ihrem Kopf herum. Am liebsten würde Elina sie laut aussprechen oder wieder hineingehen und sie sich von der Schwester noch einmal sagen lassen.
    Während sie zurück in Richtung Hauptstraße geht, spricht sie die Worte unhörbar vor sich hin, die Lippen zum Lächeln geöffnet, und sie denkt daran, dass man beim Telefonieren immer am Klang der Stimme merkt, ob der andere lächelt, und dass es bestimmt an der Lippenform liegt.
    Sie geht bis zu der Ecke, wo sie Ted stehen gelassen hat, und blickt sich um. Prächtig , raunt es ihr in den Ohren, gesund . Sie dreht sich nach links, sie dreht sich nach rechts. Keine Spur von Ted. Die Sonne brennt ihr auf die Schultern, auf den Streifen Hals, der ungeschützt aus der Apfelbluse herausschaut. Sie runzelt die Stirn. Wo steckt er? Sie überquert die Straße, und ihre Verwunderung geht in Gereiztheit über. Wo zum Teufel ist der Kerl abgeblieben? Und was ist heute bloß mit ihm los?
    Als sie um die nächste Ecke biegt, sieht sie ihn. Er steht auf dem Bürgersteig, die Hand zum Schutz gegen die Sonne vor die Augen gelegt, und blickt nach oben.
    »Was machst du hier?«, fragt sie, als sie bei ihm ist. »Ich hab’ dich überall gesucht.«

    Er dreht sich zu ihr um und macht ein Gesicht, als ob er weder sie noch das Kind jemals zuvor gesehen hat.
    »Was machst du hier?«, fragt sie noch einmal. »Was ist los?«
    Mit zusammengekniffenen Augen sieht er zu dem Baum hinter ihr hoch, in die Sonne. »Kennst du das Lied?«, fragt er. »Über die drei Raben?«
    Elina starrt ihn an. »Was für ein Lied?«
    »Weißt du nicht?« Mit brüchiger Stimme fängt er an zu singen: »Drei Raben sitzen auf dem Stein,
    sitzen auf dem Stein,
    sitzen auf dem Stein,
    Drei Raben sitzen auf dem Stein
    an einem kalten Morgen.«
    »Ted …«
    Er setzt sich auf ein Gartenmäuerchen. »Die nächste Strophe geht: ›Der erste Rabe weint um seine Ma, weint um seine Ma‹ - und so weiter. Aber ich kann mich nicht erinnern, was danach kommt.«
    Sie nimmt das Kind auf den anderen Arm, zupft die Decke zurecht. Vor ihrem inneren Augen tauchen die drei Raben auf, sie hocken in einer Reihe neben Ted auf der Mauer, glänzendes, grünlich schwarzes Gefieder, krumme Schnäbel, schuppige Krallen, die sich an den Stein klammern.
    »Es muss mit ›Der zweite Rabe‹ weitergehen.« Ted schließt die Augen. Er öffnet sie wieder und legt erst die eine, dann die andere Hand darüber, wie bei einem Sehtest. Er schüttelt den Kopf. »Ich weiß es nicht mehr.«
    Elina setzt sich neben ihn. Sie legt ihm die Hand aufs Bein, fühlt das Zucken in seinen Muskeln.
    »Alles in Ordnung mit dir?«
    »Mit mir?«, sagt er.

    »Hast du wieder diese Sache mit den Augen?«
    Er legt grübelnd die Stirn in Falten. »Das dachte ich«, antwortet er langsam. »Aber es scheint schon wieder vorbei zu sein.«
    »Gut.«
    »Ja?«
    Elina schluckt. Ihr ist nach Weinen zumute. Sie dreht schnell den Kopf weg, damit er es nicht merkt. Was hat er bloß? Kann es sein, dass manche Männer einen Knacks kriegen, wenn ihre Frau ein Kind bekommt? Elina weiß es nicht, und sie weiß auch nicht, wen sie fragen kann. Vielleicht ist es ganz normal, dass junge Väter ein bisschen verwirrt sind, ein bisschen in sich gekehrt. Genau in dem Moment, da ihr selbst das Wasser nicht mehr bis zum Hals steht und sie allmählich wieder auftaucht, sich strampelnd, blinzelnd und keuchend an die Oberfläche kämpft, droht er unterzugehen. Sie drückt sein Bein, als ob sie etwas von sich auf ihn übertragen könnte. Bitte, will sie sagen, bitte sei nicht so, ich schaff das alles nicht allein. Andererseits muss sie sich beherrschen, um ihn nicht anzuschreien, steh verdammt noch mal von dieser Mauer auf und hilf mir, ein Taxi anzuhalten. Sie zwingt sich, einen ruhigen Ton anzuschlagen. »Warum nicht nach ?«, fragt sie. »Wieso weint er um seine Ma und nicht nach seiner Ma?«
    Er legt seine Hand auf das andere Auge. »Das bedeutet, dass seine Mutter nicht nur kurz weg ist, sondern, dass er sie verloren hat.«
    »Ach.« Elina senkt den Blick und schrickt leicht zusammen. Das Kind ist aufgewacht und starrt sie mit weit

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