Die Hand die damals meine hielt - Roman
aus kann er erkennen, dass auch in der Tür zum Atelier ein Schlüssel steckt. Sein Herz schlägt wie wild vor Freude, und er läuft los, durch das Gras.
Als er durch das Fenster schaut, traut er seinen Augen nicht: Elina steht an der Spüle. Sie trägt ihren Arbeitskittel und ist mit irgendetwas beschäftigt. Vielleicht mischt sie eine Farbe oder wäscht einen Pinsel aus, Ted kann es nicht genau erkennen, weil er sie nur im Profil sieht. Womit auch immer sie dort hantiert, sie macht es mit geschickten, routinierten Bewegungen, und auf ihrem Gesicht liegt ein Ausdruck konzentrierter Heiterkeit. Sie sieht aus wie früher. Wie damals, als Ted sie kennengelernt hat, als sie mit dem zerbeulten Kombi, den sie sich von irgendwem geliehen hatte, bei ihm ankam und sich sogleich daranmachte, ganz allein ihre schweren Umzugskartons zwei Treppen hoch in die Mansarde zu wuchten. Weil er es nicht mit ansehen konnte, wie sich diese zierliche, elfengleiche Person mit der kurzen Blondhaarfrisur geduldig mit einem riesigen Leuchtkasten abplackte, ging er hinaus und bot ihr seine Hilfe an. Sie schien überrascht. »Das schaff ich schon«, sagte sie, und er
hätte fast laut lachen müssen, so eindeutig war sie mit dieser Last überfordert. In den Wochen danach verfolgte er ihr Kommen und Gehen - rauf auf den Dachboden, runter vom Dachboden. Abends ging sie aus dem Haus, wohin auch immer, tagsüber tauchte sie zu den unmöglichsten Zeiten in der Küche auf, um etwas zu essen. Wenn er sie mitten in der Nacht über sich hin und her laufen hörte, fragte er sich, was sie wohl da oben machte, und er fühlte sich seltsam geehrt, an den privaten Vorgängen in diesem ungewöhnlichen Leben teilhaben zu dürfen. Nach diesen unruhigen Nächten strahlte ihr Gesicht oft etwas so Beseeltes, Verinnerlichtes aus, dass er sie am liebsten gefragt hätte: Was ist dein Geheimnis, was treibst du da oben?
Er liebt diesen Gesichtsausdruck. Er hat ihm gefehlt. Dieser Ausdruck hat ihm die Richtung gewiesen, hat ihm gezeigt, was er tun musste. Denn nach einer Weile wurde ihm immer stärker bewusst, dass Elina ihn an nichts so sehr erinnerte wie an einen Luftballon - bunt und mit Helium gefüllt, in einer Kinderhand an einer Schnur auf und ab tanzend. Eine Unvorsichtigkeit, und schon fliegt er auf und davon. Elina hatte schon überall gelebt, auf der ganzen Welt; sie kam und ging und zog weiter. Ihr Geheimnis - das, was sie mit ihren Farben, Verdünnern und Leinwänden da oben in ihrer Mansarde machte, wenn ihr niemand zusah -, war alles, was sie brauchte. Sie brauchte keinen Anker, keine Schwerkraft. Und wenn er sie nicht festhielt, wenn er sie nicht an sich band, würde sie früher oder später ihre Zelte abbrechen. Also tat er es. Er packte zu und hielt sie fest; manchmal sieht er es regelrecht vor sich, wie er sich die Ballonschnur um das Handgelenk knotet und einfach weiter seinem gewohnten Leben nachgeht, während das bunte Heliumding über ihm in der Luft schaukelt, direkt über
seinem Kopf. Seitdem hat er sie nie wieder losgelassen. Anfangs musste er sich erst daran gewöhnen, dass sie manchmal nicht da war, wenn er in der Nacht aufwachte, dass das Bett leer war. In der ersten Zeit lief er dann jedes Mal panisch durchs Haus. Aber irgendwann merkte er, dass sie sich nur davonstahl, um zu arbeiten, um ihr anderes Leben zu führen. Trotzdem musste er immer erst aus dem Fenster sehen, um sich zu vergewissern, ob in ihrem Studio Licht brannte, bevor er sich wieder allein ins Bett legen konnte.
Und jetzt ist dieser Gesichtsausdruck wieder da! Er muss sich beherrschen, um nicht in die Hände zu klatschen, während er durch das Studiofenster zu ihr hineinsieht. Sie kommt wieder auf die Beine, sie hat überlebt. Sie hat sich nicht unterkriegen lassen, nicht durch das Gemetzel im Krankenhaus, nicht durch seine geflüsterte Frage Sollen wir es nicht dieses eine Mal ohne machen? Sie wird wieder ganz gesund werden. Das sieht er, an dem Ausdruck in ihrem Gesicht, am Spiel ihrer Schultermuskeln, an dem angespannten Zug um ihren Mund. Sie arbeitet. Er spürt die Aufregung, die von ihr ausgeht. Sie arbeitet.
In diesem Moment hört er links von sich eine Stimme: »Ist sie da drin?« Und Ted ist so versunken in das, was er durch das Fenster sieht, dass er zu langsam reagiert, um seine Mutter aufzuhalten.
Jetzt geschehen mehrere Dinge gleichzeitig. Die Tür, die etwas lose in den Angeln hängt, kracht nach hinten gegen die Holzwand. Elina wirbelt so heftig herum, dass
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