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Die Hand die damals meine hielt - Roman

Titel: Die Hand die damals meine hielt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie O Farrell
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Kind.
    »Ich wüsste zu gern, ab wann er sich erinnern kann«, sagt Ted.
    Elina sieht ihn an. Ted hat den Kopf auf den Ellenbogen gestützt und betrachtet seinen Sohn.
    »Ich glaube, das ist unterschiedlich«, antwortet sie. »So mit drei oder vier, glaube ich.«
    »Drei oder vier?«, murmelt er verwundert.
    Sie lächelt. »Ich rede hier nicht von dir, Mister Amnesie. Ich rede von normalen Menschen mit einem normalen Gehirn.«

    »Was ist ein normales Gehirn, Miss Insomnia?«
    Sie geht nicht darauf ein. »Ich kann mich erinnern, wie mein Bruder geboren wurde.«
    »Wie alt warst du da?«
    »Hm.« Sie muss kurz überlegen. »Zwei. Zwei Jahre und fünf Monate.«
    »Wirklich?« Ted ist ehrlich erstaunt. »Du kannst dich an Sachen erinnern, die passiert sind, als du zwei warst?«
    »Ja, doch. Aber es war schließlich auch ein großes Ereignis. Die Ankunft eines Brüderchens. Daran würde sich jeder erinnern.«
    Er schmiegt eine Hand um ein Kinderfüßchen. »Ich nicht.«
    »Ich habe irgendwo gelesen, dass Leute mit jüngeren Geschwistern ein besseres Gedächtnis haben, weil es mehr trainiert wird oder so. Sie können ihre Erinnerungen leichter einordnen.«
    Er grinst. »Dann sehe ich natürlich alt aus.« Er lässt das Füßchen los und legt sich wieder hin, die Hände hinter dem Kopf. »Es ist auf jeden Fall eine perfekte Ausrede für mein miserables Gedächtnis. Keine Geschwister.« Elina wirft ihm einen Blick zu, sieht die weißen Linien auf seiner braunen Haut, an den Armen, am Handgelenk von der Armbanduhr, das Spiel seiner Beinmuskeln, den dunklen Haarflaum um seinen Nabel, auf seiner Brust. Es ist eine heiße Nacht, und er ist bis auf die Boxershorts nackt. Wie seltsam, denkt sie, dass er äußerlich so unverändert ist. Wo ich mich selbst nicht wiedererkenne.
    Ted redet weiter. »Seit wir den Jungen haben, seit ich euch zusammen erleben kann, ist es fast so, als ob meine Erinnerungen zurückkommen. Fast, aber nicht ganz. Vor ein paar Tagen zum Beispiel - es war keine große Sache, erwarte dir
nicht zu viel -, aber ich habe mich daran erinnert, dass ich auf einem Weg gegangen bin und dass jemand meine Hand hielt, der viel größer war als ich, jemand, der grüne Schuhe trug, hohe Schuhe, aber keine Stöckelschuhe, sondern solche mit dicken Sohlen.«
    »Plateauschuhe?«
    »Ja. Grüne Plateauschuhe mit einer Sohle aus Holz.«
    »Wirklich? Und sonst noch etwas?«
    »Das war alles. Ich habe mich nur an das Gefühl erinnert, wie es ist, wenn man den Arm nach oben streckt und von jemandem geführt wird.«
    Sie legt ihm die Hand auf die Brust, und er bedeckt sie sofort mit seinen Händen. »Sag nicht, dass dein Gedächtnis besser wird. Ist das denn überhaupt möglich?«
    »Anscheinend ja«, antwortet er. Er hebt ihre Hand an die Lippen und drückt geistesabwesend einen Kuss darauf. »Wunder gibt es immer wieder.«

E ines Abends saß Lexie noch allein in der elsewhere -Redaktion. Innes sah sich irgendwo in einem Atelier ein Triptychon an, Laurence war ins Mandrake gegangen. Lexie war fest entschlossen, erst dann Feierabend zu machen, wenn sie einen weitschweifigen Artikel über George Barker um mindestens eine weitere halbe Seite gekürzt hatte. Sie klemmte sich den Korrekturstift zwischen die Zähne und beugte sich über das Manuskript.
    »Der quintessenzielle Kern, das Ureigentliche und Wesenhafte dessen, was Barkers Kadenzen ausmacht …«, las sie. Brauchte es den Kern und das Ureigentliche? Und das Wesenhafte auch noch? Bedeutete »quintessenzieller Kern« nicht das Gleiche wie »das Wesenhafte«? Grimmig biss Lexie auf den Stift. Er schmeckte nach Graphit und Holz. Sie hatte den Text schon so oft gelesen, dass er allmählich jeden Sinn verlor. Unschlüssig ließ sie den Stift zwischen »quintessenzieller Kern« und »Wesenhaft« ein paarmal hin und her wandern, bis ihm zuletzt das Wesenhafte zum Opfer fiel - und zwar aus dem Grund, dass es ein hässliches Wort war, weil es …
    Quietschend ging die Tür auf, und Daphne kam herein. Sie schüttelte sich den Regen von der Jacke. »Mein Gott«, rief sie. »Was für ein Sauwetter.« Sie sah sich um. »Wo sind denn alle? Was ist passiert? Bist du ganz allein?«

    »Ja«, antwortete Lexie. Die beiden Frauen sahen sich über den Schreibtisch hinweg an. Lexie legte den Korrekturstift weg, nahm ihn wieder in die Hand. »Ich wollte das hier noch fertig machen.«
    Daphne kam um den Tisch herum und sah ihr über die Schulter. »Ist das eine Buchkritik von Venables? Seine

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