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Die Hand die damals meine hielt - Roman

Titel: Die Hand die damals meine hielt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie O Farrell
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folgen ihm, tiefer und tiefer, ein furchtbarer Sturz, und dieser Mann hat keinen Fallschirm, er kann an keiner Leine reißen, kein seidener Stoff bläht sich auf, um ihn zu retten. Mit dem Kopf zuerst und mit um sich dreschenden Gliedern stürzt er der Erde entgegen.
    Dann schubst Ted die Maus ein winziges Stück weiter. Er klickt - drei markante Achtelnoten -, und der Mann wird im Sturzflug angehalten, eine Handbreit, bevor er auf der Straße aufschlägt. Jetzt, aus dieser Kameraperspektive, sieht man sein Gesicht: eine verbissene, grimmige Miene, gebleckte Zähne, zusammengekniffene Augen. Ted hat ihn gerettet. Er klickt noch einmal, und der Film läuft zurück, der Mann schnellt durch die Luft zurück nach oben, höher und immer höher hinauf, weiter und immer weiter weg von der Erde, und dann steht er wieder oben auf dem Dach; er redet jetzt mit dem Mann, dem breitschultrigen Kerl, der ihn hinuntergestoßen hat. Wenn er klug ist, lässt er sich nie wieder auf einem Hochhausdach mit einem Kraftprotz auf ein Streitgespräch ein.
    Ted lässt den Film vorwärts- und rückwärtslaufen. Wir sehen aus unterschiedlichen Blickwinkeln, wie der Mann
vor- und zurücktaumelt. Vorwärts: auf die Kante zu. Rückwärts: auf den stämmigen Mann zu. Vorwärts, rückwärts. Wird er stürzen, oder kann er sich auf dem Dach halten? Wird er sterben oder nicht? Wird er heute sterben oder morgen? Die Entscheidung liegt bei Ted.
    Aber vorläufig scheint er sich noch nicht entscheiden zu wollen. Er gähnt, reibt sich mit den Handballen die Augen, lehnt sich nach hinten. Wieder ein Mausklick, und die Szene läuft rückwärts. Während er sich auf die Bilder konzentriert, massiert Ted seinen linken Arm. Er gähnt wieder und wirft einen Blick auf die Wanduhr - bald kommt der Regisseur, der sich die Szene ansehen will. Plötzlich runzelt er die Stirn und beugt sich vor. Am oberen Rand des Bildschirms hat etwas geflackert, ganz kurz nur, keine tausendstel Sekunde lang. Er bewegt die Maus, und die Bilder rollen im Schneckentempo vorwärts und zurück. Vorwärts und zurück.
    Da! Jetzt hat er’s! Er wusste es! Blitzschnell flimmert etwas schwarz an der Kamera vorbei. Ein Ausrüstungsgegenstand, ein loser Draht, eine Fingerkuppe, wer weiß? Aber er hat es gefunden und mit ein paar flinken Mausklicks entfernt.
    Ted lehnt sich zufrieden wieder zurück. Er hasst Filmfehler, findet es schrecklich, wenn sie ihm durchrutschen. Er muss noch einmal gähnen. Er tätschelt sich dreimal die Wange. Er muss hellwach sein, wenn der Regisseur kommt, er braucht einen Kaffee, er muss seinen Vater zurückrufen, später vielleicht, er muss …
    Und plötzlich sieht er, wie sein Vater ihn als Kind eine Straße entlangzieht. Er, Ted, trödelt und schlurft mit den Füßen und schreit: Nein, nein, nein . Und sein Vater? Sein Vater sagt, jetzt komm, und du musst, und stell dich nicht so an .
Was Väter so sagen. Anscheinend will er ihn irgendwohin bringen, ohne seine Mutter, denn auf einmal erinnert sich Ted an das Gefühl - vage zwar, aber doch eindeutig -, an den unbändigen Drang, das überwältigende Bedürfnis, sie zu sehen, zu ihr zu laufen, sich an den Eisenzaun zu klammern und so lange festzuhalten, bis sie ihn rufen hört, bis sie ihn holen kommt.
    Ted sieht auf den Bildschirm, auf den Mann, der wie ein dunkler Engel in der Luft schwebt. Auf die Karte mit Elinas Gemälde. Er schüttelt seinen Arm aus, der ganz steif geworden ist und kribbelt - vielleicht sollte er doch mal wieder zum Osteopathen gehen -, und er steht auf. Er sieht auf seine Hände, auf den Daumen mit der Narbe, auf den Block mit den Telefonnummern. Er greift zum Hörer, hält ihn unschlüssig in der Hand. Er müsste seinen Vater zurückrufen. Oder lieber Elina? Und sie fragen, ob es ihr gut geht. Aber Ted wählt weder die eine noch die andere Nummer. Er setzt sich an den Schreibtisch, hält den Hörer ans Ohr und lauscht dem Schallimpuls des Wähltons, der in seiner Monotonie so beruhigend ist wie der Wind in den Bäumen, wie die Wellen an einem Kieselstrand.

    Es klingelt an der Haustür, ein ums andere Mal. Elina ist im Gästezimmer und legt die Wäsche zusammen - Hemdchen, Strampelanzüge, winzige Söckchen. »Ted?«, ruft sie. »Ted!«
    Keine Antwort. Es klingelt weiter. Sie legt das Hemdchen weg, das sie gerade in der Hand hält, und geht nach unten.
    Als sie die Tür aufmacht, steht Simmy vor ihr auf dem Gartenweg.
    »Kleine My«, sagt er. »Ich wollte dich entführen.«

    Elina lacht.

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