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Die Hand die damals meine hielt - Roman

Titel: Die Hand die damals meine hielt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie O Farrell
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dem Haus auf ein Taxi. Neben ihnen standen zwei Koffer. Lexie zitterte, obwohl sie noch immer in die Daunendecke eingewickelt war.
    »Meinst du«, sagte sie mit klappernden Zähnen und deutete auf die Decke, »dass die hier zu Innes Kents Erbmasse gehört?«
    Laurence warf einen traurigen Blick darauf, dann sah er zum Himmel, der allmählich hell wurde. Die Wolken waren golden gestreift, die Bäume reglos, wie schwarze Scherenschnitte. Er lachte, aber er hatte Tränen in den Augen. »Mein Gott, Lex«, murmelte er. »Sachen gibt’s.«
    Sie hielten ein Taxi an, und nachdem Laurence Lexie und die Koffer darin verstaut hatte, wandte er sich an den Fahrer. »Augenblick noch. Bin gleich wieder da.« Er lief noch einmal ins Haus.
    Lexie saß im Taxi, ihre ganze Habe in zwei Koffern und ein paar Bündeln, die Daunendecke um sich gerafft. Ein langer schwarzer Wagen fuhr vor, hinter dem Steuer Gloria, das Profil unverkennbar, der arrogante Mund, die hochgezogenen Brauen. Sie kippte den Rückspiegel, überprüfte ihren Lippenstift und scherzte mit jemandem, der neben ihr saß. Mit ihrer Tochter. Da war sie, auf dem Beifahrersitz. Sie nickte: Ja, Mutter, nein, Mutter.
    Sie stiegen aus. Gloria schwang ihren Rock aus der Autotür und schlug sie mit einem resoluten Schlenker hinter sich zu. Sie sahen zum Haus hinauf, zur obersten Wohnung. Plötzlich verfinsterte sich Glorias Miene, und sie rief: »Sie! Sie da!«
    Laurence kam im Laufschritt die Treppe herunter, ein großes, eckiges, in Decken gehülltes Paket unter dem Arm. Lexie wusste sofort, worum es sich handelte - um Innes’ Gemälde. Laurence rettete die Bilder.

    »Stehen bleiben! Ich fordere Sie auf stehen zu bleiben!«, kreischte Gloria. »Ich muss wissen, was Sie da wegschaffen.«
    Laurence sprang ins Taxi. »Fahren Sie«, befahl er. »Los, fahren Sie bitte!«
    Der Fahrer nahm den Fuß von der Bremse und gab Gas. Sie rollten los. Gloria rannte in ihren Stöckelschuhen neben ihnen her, um einen Blick ins Wageninnere zu werfen; auf der anderen Seite des Taxis rannte ihre Tochter. Ihr gelang es besser mitzuhalten. Sekundenlang lief sie neben Lexie her, das Gesicht nur Zentimeter von ihr entfernt hinter der Scheibe, die Augen unverwandt auf sie geheftet. Ihr Blick war dumpf und unergründlich, stier wie der eines Haifischs. Was für ein Gefühl lag darin? Ein stummer Vorwurf? Neugier? Wut? Unmöglich zu sagen. Lexie legte die Hand auf die Scheibe, um sich vor dem schrecklichen Medusenblick zu schützen. Als sie sie wieder wegnahm, war Margot verschwunden.
    Die Zeit nach Innes’ Tod bestand für Lexie aus einer endlosen Reihe von Tagen, leeren Stunden und Jahren, die irgendwie vorübergingen. In mancher Hinsicht gibt es nichts darüber zu sagen. Denn es war eine Zeit des Nichts, der Ödnis, des Vakuums. Als Innes starb, endete das Leben, wie Lexie es kannte, und ein anderes begann: Sie fiel wie Innes mit seinem Fallschirm aus ihrer Existenz heraus und in eine andere hinein. Die Zeitschrift gab es nicht mehr, die Wohnung gab es nicht mehr, Innes gab es nicht mehr. Auch wenn sie es damals noch nicht wusste: Sie würde nie wieder einen Fuß nach Soho setzen, nicht ein einziges Mal.
    Wenn sie an die erste Zeit nach ihrer Flucht aus der Wohnung zurückdachte, hätte sie wahrscheinlich gesagt, dass sie sich an nichts erinnern könne und dass es lange gedauert
habe, bevor das Leben und ihr Empfindungsvermögen zurückkehrten. Aber hin und wieder tauchten bestimmte Szenen vor ihr auf, lebenden Bildern ähnlich. Wie sie die Koffer in Holborn den Kingsway entlangschleppt. Wie sich der Saum ihres Mantels an einem Geländer verfängt und einreißt. Wie sie ein Zimmer in einem Kellergeschoss besichtigt und die Vermieterin eine große dreifarbige Glückskatze an ihren Busen presst. Das Zimmer, ein schmaler Schlauch, riecht nach Mäusen und Feuchtigkeit, das Fenster ist klein und hat eine seltsame längliche Form. »Was ist mit dem Fenster passiert?«, fragt Lexie. »Abgeteilt«, sagt die Vermieterin. »Mitten durch.« Lexie starrt die Katze an, und die Katze starrt zurück, mit weit offenen, glänzenden Pupillen. In den Pupillen spiegelt sich das Bild des abgeteilten Fensters. Wie sie versucht, den Gaskamin anzuzünden, und es nicht schafft. Wie sie deswegen in Tränen ausbricht. Wie sie deswegen ihren Schuh an die Wand wirft. Wie um sie herum auf dem Teppich abgebrannte Streichhölzer liegen. Wie sie im Regents Park eine Handvoll Waldhyazinthen stiehlt. Der Saft aus den Stängeln tropft

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