Die Hand die damals meine hielt - Roman
Jonah an ihre Schulter. Er fühlt sich schlaff an, wie eine Stoffpuppe, und inzwischen hat sie gelernt, dass das ein gutes Zeichen ist, dass es mehr Schlaf bedeutet, für sich selbst und auch für ihn. Sie reibt ihm den Rücken. »Das klingt ja schrecklich«, sagt sie leise zu Ted. »Was für ein merkwürdiger Traum. Ich träume manchmal,
dass ich zum Kinderbettchen komme und Jonah ist verschwunden. Oder dass ich den Wagen schiebe und er liegt nicht drin. Ich glaube, das gehört zum Bindungsprozess dazu, dass man …«
»Hmm.« Ted starrt an die Decke. »Aber es war so real, als ob …«
Jonah unterbricht ihn mit einem lauten Bäuerchen.
»Komm«, sagt Ted und streckt die Arme nach ihm aus. »Ich nehm ihn. Schlaf du weiter.«
L exie an einem schwülen Frühlingsabend in Paris. Sie sitzt in ihrem Hotelzimmer an der Schreibmaschine, die sie behelfsmäßig auf der Frisierkommode aufgebaut hat. Die Schuhe hat sie sich von den Füßen geschlenkert, ihre Kleidung kunterbunt durcheinander auf das schmale Bett geworfen. Sie trägt lediglich einen Unterrock; die Haare hat sie sich mit einem Bleistift hochgesteckt. Das Zimmer ist eng, unerträglich heiß; die Tür zu dem winzigen Eisenbalkon steht offen. Eine leichte Brise bläht die dünnen Gardinen und saugt sie wieder an. Von der Straße dringen Geräusche herauf: rennende Schritte, Schreie, Polizeisirenen, splitterndes Glas. Sie war die ganze Nacht auf den Beinen, war dabei, als die Studenten auf dem Boulevard St-Michel und an der Sorbonne Barrikaden errichteten, Pflastersteine herausrissen und Autos umkippten, als die Polizei mit Schlagstöcken und Tränengas zum Gegenangriff überging.
Sie überprüft, was sie geschrieben hat. Ob sie aufgewiegelt oder provoziert wurden, muss sich erst noch zeigen, aber eine solche Überreaktion der Polizeikräfte … Da bricht es ab. Noch hat sie nicht die leiseste Ahnung, wie der Satz enden soll.
Sie tippt einen Punkt, fängt einen neuen Absatz an, und sieht zu, wie die Frau im Frisierspiegel das Gleiche tut. Wie dünn sie ist, in ihrem Unterrock, so mager, dass die Schlüsselbeine hervorspringen, und sie hat dunkle Ringe um die
Augen. Lexie legt sich die Hand auf die Stirn, beugt sich ganz nah zum Spiegel. Um den Mund und in den Augenwinkeln zeigen sich erste Fältchen. Für sie sind es Verwerfungslinien, Ausblicke in die Zukunft; sie markieren die Stellen, wo ihr Gesicht einsinken und sich die Haut von den Knochen lösen wird.
Sie weiß nicht, dass es dazu nie kommen wird.
Es klopft an der Tür, und ihr Kopf fährt herum.
»Lexie?«, flüstert Felix laut. »Bist du da?«
Vor ein paar Stunden hat sie ihn neben einer brennenden Barrikade gesehen, hektisch nach der Kamera winkend, hinter ihm vorbeihetzende Gestalten.
Sie rührt sich nicht von ihrem Hocker. Sie beißt auf ihren Bleistift, fältelt an ihrem Unterrock herum. Jeder Mann, der nicht Innes ist, wäre in dieser Nacht ein Hohn auf ihn, wäre ein Verbrechen. Sie kann es sich nicht erklären, aber sie hatte den ganzen Tag das Gefühl, ihn um sich zu haben, einen halben Schritt hinter ihr, einen halben Schritt links von ihr. Immer wieder hat sie sich umgeschaut, als ob sie einen Blick auf ihn erhaschen könnte. Plötzlich drängt es sie, seinen Namen laut auszuprechen, hier, in diesem Hotelzimmer mit den zerschrammten Möbeln und dem fleckigen Bettzeug. So stark ist dieser Drang, dass sie fast daran erstickt.
Es klopft noch einmal. »Lexie!«, zischelt Felix. »Ich bin’s.«
Er wartet noch einen Augenblick, dann gibt er auf. Sie hört, wie er sich gähnend entfernt. Sie legt sich aufs Bett. Starrt an die Decke. Schließt die Augen. Sofort sieht sie Innes vor sich. Er sitzt auf dem Frisierhocker, von dem sie gerade aufgestanden ist, er ist hier bei ihr im Zimmer. Sie öffnet die Augen. Tränen laufen ihr über die Schläfen, sickern in ihre Haare, rinnen ihr in die Ohren. Sie macht die Augen wieder zu. Sie sieht: die Aussicht aus dem Fenster ihrer
Wohnung in Haverstock Hill. Sie sieht: Innes’ Hand, die einen Stift hält mit seinem schiefen Linkshändergriff. Sie sieht: wie er an ihrem Bücherregal lehnt und nach einem Buch sucht. Sie sieht: wie er sich in der Küche über der Spüle rasiert, das halbe Gesicht voll Schaum. Sie sieht: sich selbst, wie sie einen Krankenhauskorridor entlanggeht und eine Spur aus Veilchen hinter sich her zieht.
London, etwa vierzehn Tage später, Lexie und Felix bei der Eröffnung von Laurences neuer Galerie. In der drangvollen Enge und
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