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Die Hand von drüben

Die Hand von drüben

Titel: Die Hand von drüben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Gallico
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nachgesehen?» fragte Tina scharf.
    «In was?»
    «Ich habe gesagt, hast du in der Bibliothek nachgesehen?»
    Selbst wenn sie in unfreundlichem Ton sprach, war Hero von ihrer Stimme entzückt. Es verriet sich eine atemberaubende Leidenschaft darin, und zugleich dachte er: Sie möchte mit ihrem Vater allein sprechen. Es war ebenso durchaus möglich, daß es ihr aus irgendeinem Grunde peinlich war, daß der Vater von ihren Bühnenträumen gesprochen hatte.
    «Nein, noch nicht. Er ist gerade erst gekommen.»
    «Dann sollten wir es dort als erstes versuchen.»
    «Da hat Tina vielleicht recht», sagte Cryder und dann zu seiner Tochter: «Warum führst du ihn nicht hinauf und bietest ihm etwas zu trinken an, während wir suchen?»
    «Ja.» Man gelangte über die Treppe in einen großen Salon. Er war mit antiken Möbeln aus der amerikanischen Frühzeit eingerichtet, die wahrscheinlich der Gründer der Firma, der ursprünglich Cryderski geheißen, erworben hatte. Außerdem standen dort ein Flügel, ein Plattenspieler und der unvermeidliche Fernsehapparat. Nach vorn hinaus lag ein Zimmer, das gewiß Tinas Schlafzimmer war, denn sie verschwand für einen Augenblick darin, ließ aber die Tür offen, und er konnte sehen, wie sie sich mit einem Kamm durchs Haar fuhr und sich schminkte. Eine Tür hinten führte vermutlich in das Schlafzimmer ihres Vaters. Nachdenklich kam sie mit gesenkten Augen zurück und wich Heros sie verzehrendem Blick aus. Sie ging zu einem Likörschrank am Ende des Salons, öffnete ihn und fragte: «Einen Whisky?» Und dabei blickte sie Hero an, und das kalte blaue Feuer in ihren Augen flackerte von neuem auf, und alles begann wieder — die Verwirrung, die Erregung und die Begierde und die Ahnung, daß sie irgendwie gestillt werden würde.
    «Ja, bitte.»
    Sie goß den Whisky aus einer Karaffe in ein Glas, tat etwas Sodawasser dazu und brachte ihm dann das Glas.
    Wie alt mag sie sein? dachte Hero. Siebenundzwanzig? Achtundzwanzig? Die Frauenpsyche in einem Puppenkörper. Sie wird sich auf die Zehenspitzen stellen müssen, wenn sie mich küßt. Der Akzent ist französisch. Mehr französisch als polnisch. Aber ihr Vater spricht wie ein amerikanischer Straßenhändler. Wo hat sie ihn gelernt? Bei dem großen Scarlett. Und bei wie vielen anderen außer ihm? Wie, du bist schon eifersüchtig, Hero? Wenn ich nicht das Feuer in diesen Augen mit Tränen löschen kann... So gingen ihm die Gedanken wirr durch den Kopf.
    «Ich werde jetzt hinuntergehen und Vater helfen», sagte Tina Cryder. «Er findet sich in seinen eigenen Büchern kaum noch zurecht. Ich hoffe, wir werden etwas für Sie finden können. Machen Sie sich’s bequem.»
    Hero blickte ihr nach, bis ihr brauner Kopf auf der Treppe verschwunden war, und er horchte, bis er das Klappern ihrer Absätze nicht mehr hören konnte.
    Sein Glas in der Hand, aus dem er immer wieder einen Schluck trank, musterte er den Raum. Die Wände waren mit Fotos berühmter Zauberer der Vergangenheit bedeckt, von denen Hero die meisten dem Namen nach kannte, und sie trugen alle eine Widmung für den einen oder anderen aus den verschiedenen Crydergenerationen; komische, altmodische, theatralische Bilder, von denen einige schon ganz vergilbt waren. Auf dem Flügel standen zwei gerahmte Kabinettporträts. Das eine war das eines Zauberers in chinesischem Kostüm, mit der Unterschrift: Auf dem anderen sah man den großen Scarlett und Tina, sie im Trikot, mit seinem Zylinder und Zauberstab in der Hand, er sein scharlachrotes Cape öffnend, und darunter stand:
    Hero wußte, Fang Wu war einer der letzten großen Illusionisten, der Degen verschluckte und andere Sachen verschwinden ließ und sich erst vor kurzem aus seinem Beruf zurückgezogen hatte. Er war ein deutscher Jude namens Karl Böhmer, und Hero betrachtete die Gestalt des Mädchens im seidenen Trikot, der man ansah, daß sie für ihre Arbeit wie geschaffen war. Sie war wahrscheinlich eine Schlangendame und konnte sich so zusammenrollen, daß sie durch die kleinsten Öffnungen in Fallen und Kästen zu schlüpfen vermochte. Höchstwahrscheinlich hatte sie schon sehr jung angefangen. Und was machte sie jetzt, da es keine Zaubervorführungen mehr gab, außer daß hin und wieder noch ein Taschenspieler in einem Nachtklub seine Kunststücke zeigte? Sie würde es natürlich mit der Bühne versuchen. War das der Grund

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